© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 08/21 / 19. Februar 2021

Schlank ist schlecht
Studie zu Kaukasuskrieg: Lehren für die Bundeswehr
Peter Möller

Gut 3.000 Kilometer Luftlinie liegen zwischen Berlin und dem zwischen Armenien und Aserbaidschan umkämpften Gebiet Bergkarabach. Trotz dieser Entfernung dürften die Auswirkungen des Krieges in der Kaukasusregion, der im vergangenen Jahr mit der faktischen Niederlage Armeniens endete, auch die sicherheitspolitische Diskussion in Deutschland beeinflussen.

Denn obwohl zwischen zwei nachrangigen Militärmächten ausgetragen, sind derzeit weltweit Experten dabei, den Krieg zu analysieren, der als einer der erster Drohnenkriege gilt. Das liegt vor allem daran, daß es Aserbaidschan geschickt verstanden hat, kurze Videos von Drohnenangriffen auf armenische Einheiten öffentlichkeitswirksam im Internet über die sozialen Medien zu verbreiten. Eigentlich handelte es sich bei dem im Juli 2020 ausgebrochenen Krieg, der am 10. November mit einem Waffenstilstand endete, um einen vor allem konventionell geführten Konflikt.

„Rückkehr der Masse auf das Gefechtsfeld“ 

Dennoch lassen sich durchaus einige Entwicklungen ablesen, die für künftige bewaffnete Auseinandersetzungen entscheidend sein könnten und Einfluß auf Strategie und Taktik sowie die Organisation von Streitkräfte haben dürften, glaubt etwa Franz-Stefan Gady vom Institute for International Strategic Studies in London, der den Konflikt für die Bundesakademie für Sicherheitspolitik analysiert hat. Die Ergebnisse der Studie dürften in der Truppenführung und bei den Sicherheitspolitikern aller Parteien die Alarmsirenen schrillen lassen, denn sie legt schonungslos offen, wie unzureichend die deutschen Streitkräfte für Kriege im Drohnenzeitalter gerüstet sind.

Zwar werde jeder Konflikt von geographischen, kulturellen, politischen, wirtschaftlichen und militärischen Faktoren beeinflußt, die sich nur selten auf andere Regionen und Länder übertragen ließen, dennoch lassen sich nach Ansicht von Gady aus dem Krieg zwischen Armenien und Aserbaidschan nützliche Schlußfolgerungen ziehen. Zum einen habe der Konflikt eindeutig die Wirksamkeit von Drohnen im Verbund mit Präzisionskampfmitteln für die moderne Kriegsführung belegt. Entscheidend sei dabei das Zusammenspiel von Aufklärungs- und Kampfdrohnen sowie sogenannter „Kamikazedrohnen“ gewesen: „Mit dieser Kombination verschiedener Drohnen gelang es Aserbaidschans Streitkräften, armenische Flugabwehrsysteme, Kommandostrukturen, gepanzerte Fahrzeuge, darunter insbesondere Kampfpanzer, und ungedeckte Artillerie gezielt zu zerstören. Gleichzeitig wurden die unbemannten Luftfahrzeuge eingesetzt, um Nachschubwege zu unterbrechen, Versorgungspunkte zu bombardieren, sowie armenische Gegenstöße, teils noch während sich die Truppen in den jeweiligen Verfügungsräumen hinter der Frontlinie sammelten, mit Präzisionsangriffen zu zerschlagen“, heißt es in dem Papier. Vor dem Hintergrund, daß die SPD erst jüngst die geplante Beschaffung von Kampfdrohnen für die Bundeswehr wieder grundsätzlich in Frage gestellt und damit auf die lange Bank geschoben hat, birgt dieses Ergebnis besondere sicherheitspolitische Brisanz.

Auch ein weiterer Befund dürfte deutschen Militärexperten zu denken geben. Nach Ansicht der Studie hat der Konflikt die Wirkungslosigkeit von herkömmlichen Flugabwehrsystemen gegen Drohnen bestätigt. Spätestens seit der Auflösung der Heeresflugabwehr der Bundeswehr 2012 ist die deutsche Luftverteidigung ein wunder Punkt. Denn es fehlt nicht nur an den geeigneten Waffen, um Drohnen, die verhältnismäßig kleine und agile Ziele darstellen, zu bekämpfen. Durch die Auflösung der Heeresflugabwehrverbände fehlt es auch an den entsprechenden Strukturen innerhalb des Heeres, um solche Waffensysteme überhaupt einzusetzen. Nach Ansicht von Gady sollte daher an die Wiedereinführung der Heeresflugabwehr gedacht werden, „um Operationen von deutschen und verbündeten Bodentruppen zu sichern und effektiv zu begleiten“.

Und auch eine andere Schlußfolgerung, die der Autor aus dem Kaukasus-Konflikt zieht, dürfte den Verteidigungspolitikern in Berlin noch Kopfzerbrechen bereiten. Angesichts der enormen Verluste an Menschen und Material, den die beiden Konfliktparteien durch die neue Art der Kriegsführung zu verzeichnen hatten, „läßt sich schließen, daß zukünftige Streitkräftestrukturen mit großer Wahrscheinlichkeit fähig sein müssen, solche Ausfälle zu absorbieren und gleichzeitig einsatzfähig zu bleiben. Ein Schlüsselwort hierfür ist Redundanz.“ Mit anderen Worten: Der Traum der Haushälter von einer schlanken und möglichst kostengünstigen Bundeswehr scheint endgültig ausgeträumt. Im Gegenteil erfordert die sich abzeichnende neue Kriegsführung mehr Personal und mehr Gerät, was sich wiederum auch in der Struktur der Streitkräfte niederschlagen würde. „Die nächsten Jahre könnten entgegen dem langjährigen Trend zu kleineren Verbänden eine Rückkehr der Masse auf das Gefechtsfeld bringen – also zu quantitativ größeren Verbänden“, analysiert Gady. Da er die Wiedereinführung der Wehrpflicht in Deutschland derzeit für unrealistisch hält, plädiert er für eine verstärkte Aufwertung von Reserveverbänden.

Auch wenn die Studie nur eine erste Bestandsaufnahme des „Drohnenkrieges“ im Kaukasus darstellt, der im Verteidigungsministerium weitere tiefergehende Analysen folgen werden, wird bereits jetzt der immense verteidigungspolitische Handlungsbedarf deutlich. Ob allerdings ausgerechnet im Jahr der Bundestagswahl bereits die dafür notwendigen politischen Entscheidungen getroffen werden, darf bezweifelt werden.