© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 08/21 / 19. Februar 2021

Grenzen schließen können
Corona-Lockdown: Ärger über ausbleibende Öffnungsperspektiven
Jörg Kürschner

Der verlängerte Dauer-Lockdown bis zum 7. März, die neue Ziel-Inzidenz 35, der anhaltende Impfstoff-Mangel, die unkalkulierbaren Virus-Mutationen, die kurzfristigen Grenzkontrollen und die ausbleibenden Wirtschaftshilfen haben das Vertrauen in den Staat erschüttert, dem es an einer Perspektive für die pandemiemüden Bürger mangelt. Kippt die Stimmung? 

„Die Leute sind kaputt“, mahnte die rheinland-pfälzische Ministerpräsidentin Malu Dreyer (SPD) Bundeskanzlerin Angela Merkel während der Bund-Länder-Konferenz über die Corona-Maßnahmen. Doch die Regierungschefin blieb beinhart. Sie fürchtet die Virus-Mutationen. „Da ist eine dritte Welle angelegt, die wir bekämpfen müssen“. So gelten die Kontaktbeschränkungen weiter, Einzelhandel, Museen und Gastronomie bleiben dicht. Trotz sinkender Infektionszahlen. Die Empörung der Wirtschaft konnte auch Merkels Gefolgsmann Wirtschaftsminister Peter Altmaier (CDU) nicht dämpfen, der zu Wochenbeginn 40 Verbände zu einem Beschwichtigungsgipfel eingeladen hatte. 

Friseure dürfen zwar ab 1. März wieder Haare schneiden, Merkel verhinderte aber die von den 16 Ländern angestrebte Öffnung bereits am kommenden Montag. Gegen eine schrittweise Öffnung von Schulen und Kitas sperrte sich die Bundeskanzlerin allerdings vergeblich. Mißmutig hatte sie in ihrer Regierungserklärung eine „eigenständige Kultushoheit der Länder“ zu akzeptieren.  

„Das Kanzleramt scheint gar nicht interessiert, über irgendwelche Lockerungsschritte zu sprechen“, entrüstete sich Dreyer nach der Konferenz. Die Ministerpräsidentin, die in drei Wochen Landtagswahlen zu bestehen hat, sollte recht behalten. Auch Dreyers CDU-Kollege Daniel Günther (Schleswig-Holstein) beklagte, seitens des Bundes habe es zu wenig Vorschläge für eine Öffnungsstrategie gegeben. Von dem in Aussicht gestellten Ausstiegsplan war keine Rede mehr. Stattdessen setzte Merkel unverdrossen eine neue Ziel-Inzidenz durch. Monatelang sollte ab dem Grenzwert von 50 Infektionen pro 100.000 Einwohner in sieben Tagen gelockert werden. Abrupt wurde die Grenze auf 35 gesenkt. „Irgend etwas zwischen drei und fünf Tagen“ sei nötig, um dann Öffnungsschritte zu erwägen, kündigte Merkel an. Lockerungen also nach drei Tagen unter 35? Von wegen. Zwei Tage später verschärfte Merkel ihre Position drastisch. Bleibe man nach den Ladenöffnungen „zwei Wochen stabil unter 35, dann können wir den nächsten Öffnungsschritt machen“. 

„Wir werden das Land schon schaffen“

„Wir werden das Land schon schaffen“, kommentierte Berlins Ex-Spitzenkandidat Frank Henkel (CDU) bitter. Linken-Fraktionschef Dietmar Bartsch konstatierte, die Kanzlerin habe sich „gedanklich im Lockdown eingemauert“. Sachsen Ministerpräsident Michael Kretschmer (CDU) übernahm die Rolle des politischen Minenhundes. „Osterurlaub in Deutschland kann es dieses Jahr leider nicht geben“. 

AfD und FDP halten die 35er- statt der 50er-Inzidenz für einen Rechtsbruch. „Was die Bundesregierung hier betreibt, ist verfassungswidrig“, hatte AfD-Co-Fraktionschefin Alice Weidel der Kanzlerin im Parlament entgegengehalten. FDP-Urgestein Wolfgang Kubicki, Rechtsanwalt von Beruf, meinte, Maßnahmen, die bei einer Inzidenz von 50 aufgehoben werden müßten, dürften nicht bis zu einer Inzidenz von 35 in Kraft bleiben. Merkels Sprecher Steffen Seibert wiegelte ab, wohl auch wegen der Kritik aus den eigenen Reihen. „Man kann nicht immer neue Grenzwerte erfinden, um zu verhindern, daß Leben wieder stattfindet“, distanzierte sich Nordrhein-Westfalens Regierungschef Armin Laschet, der neue CDU-Chef mit Blick auf die Kanzlerkandidatur. Markus Söder, CSU-Chef und bayerischer Ministerpräsident, tickt andersherum. „Ich selber wäre schon ein Anhänger der ‘No Covid-Strategie’“. Also Inzidenz-Wert Null? In der Magdeburger Staatskanzlei warnte Reiner Haseloff (CDU) vor zu frühen Oster-Festlegungen. Versäumnisse bei den Ländern zählte CDU/CSU-Fraktionschef Ralph Brinkhaus auf. „Teststrategien, Lüftungsstrategien, Logistikstrategien“. 

Mit welchem Ergebnis am 3. März zu rechnen ist, dem Termin des nächsten Bund-Länder-Gipfels, ist noch offen. Denn Merkels Kurswechsel in Sachen Inzidenz-Grenzwert wird auf den verheerenden Impfstoffmangel zurückgeführt. Ein Ende des Lockdowns würde damit in den Impfzentren entschieden. „Ende März/Anfang April werden wir Mühe haben, alles zu verimpfen, was wir haben“, suchte Merkel Hoffnung zu verbreiten. Dann sollen auch Hausärzte mit Impfungen beginnen und Schnelltests zur Verfügung stehen.

In seltener Eintracht haben die Kanzlerin und ihr Innenminister Horst Seehofer (CSU) aus Sorge vor Corona-Mutationen Grenzkontrollen bei Einreisenden aus Österreich und Tschechien angeordnet. Merkels Mantra während der Flüchtlingskrise 2015 („Wir können die Grenzen nicht schließen“) ist Makulatur. Ausnahmen gelten für „systemrelevante Berufsbranchen“. Weitere Länder könnten folgen. Baden-Württemberg, Rheinland-Pfalz und das Saarland wollen sich wegen der Grenze zu Frankreich absprechen. 

Auf Kritik der EU an den Kontrollen reagierte Seehofer schroff. „Jetzt reicht’s. Die EU-Kommission hat bei der Impfstoffbeschaffung in den letzten Monaten genug Fehler gemacht“. So ist die Stimmung in Deutschland ein Jahr nach Beginn der Seuche auf dem Nullpunkt. „Diese Wut manifestiert sich und die wird irgendwann umschlagen in Gewalt, fürchte ich“, meinte FDP-Vize Kubicki düster.