© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 08/21 / 19. Februar 2021

Und jetzt Hartz IV
Selbständige unter existentiellem Druck: Wegen des Lockdowns dürfen sie nicht arbeiten. Eine Kosmetikerin, ein Friseur, ein Gastwirt erzählen
Hinrich Rohbohm

Der Griff zum Telefon ist schon getätigt. „Ich rufe Ihnen ein Taxi, damit Sie rechtzeitig zum Bahnhof kommen“, ruft uns André Amberg zu und tippt bereits eine Nummer ins Gerät. In seinem Friseurgeschäft mitten in der Altstadt im thüringischen Gotha ist der 48jährige als Dienstleister ganz in seinem Element.

„Können Sie um 14.10 Uhr einen Wagen in die Pfortenstraße schicken, ja? Wie? Wo das ist? Beim Friseur.“ Er legt auf. „Wenn ich Friseur sage, wissen sie Bescheid“, sagt er und grinst. Man kennt sich im Ort. Er geht mit uns vor die Tür, raus auf die Straße, etwa 50 Meter weiter die Straße entlang. Hier hat André Amberg noch ein zweites Friseurgeschäft. „Das ist der alte Laden, erbaut 1938“, erklärt er.

Die Hände zum Schutz vor der eisigen Kälte in den Taschen vergraben, lehnt sich der Friseurmeister an die Fassade seines Geschäfts. Das strenge Winterwetter ist ein Spiegelbild für die eisige Stimmung, die bei ihm und Millionen anderen Mittelständlern angesichts des nun schon zwei Monate andauernden Lockdowns herrscht. Nachdenklich blickt er die Straße hinunter. An deren Rändern stapelt sich der aus dem Weg geräumte Schnee. Am Schaufenster keimt Hoffnung auf. Ein Zettel. „Terminvereinbarung wieder möglich!“ steht da. Ab dem 1. März dürfen Friseure wieder öffnen. Ein Silberstreif am Horizont.

„Zwei Weltkriege überlebt und zwei Diktaturen“

„Haare seit 1896“ steht auf dem Werbeschild, das über dem Ladeneingang hängt. Am 1. April wird das von André Amberg in vierter Generation geführte Unternehmen 125 Jahre alt. Eigentlich ein Grund zum Feiern. „Aber das fällt wohl ins Wasser“, sagt der 48jährige in trocken-bitterem Tonfall.

Er öffnet die Ladentür. Ein Flurkorridor führt bis zum Frisierzimmer. Auf dem Korridor hängen Bilder aus besseren Zeiten. Fotos vom Vater, dem Großvater und vom Urgroßvater, die vor ihm den Betrieb geführt hatten. Gegenüber: eine Glasvitirine, gefüllt mit alten Meisterbriefen und Urkunden. Der erste Meisterbrief des Unternehmens hat einen besonderen Platz, er hängt eingerahmt im Frisierraum.

„Wir haben zwei Weltkriege überlebt und zwei Diktaturen. Aber Corona ist das Schlimmste für uns“, hatte sein Vater zu ihm kürzlich gesagt. André Amberg kann nicht widersprechen. „Ich habe nun meine letzten Rücklagen aufgebraucht“, verrät er. Wie es von nun an weitergeht, ist ungewiß. Die „Bazooka“, die Bundesfinanzminister Olaf Scholz (SPD) den Unternehmen angekündigt hatte – sie entpuppte sich als Rohrkrepierer. „Fakt ist, daß bis heute nichts bei mir angekommen ist“, stellt André Amberg für sich fest. Statt dessen gähnende Leere in jenem Raum, wo sonst neun Mitarbeiter und ein Lehrling den Kunden die Haare schneiden. Über dem Sitz eines Barbierstuhls hängt weiß-rotes Absperrband. Geschlossen. Wie die gesamte Firma, während die Friseure in Nachbarländern ihrem Handwerk nachgehen können.

Für André Amberg ist das deutsche Verbot realitätsfern. „Wenn man die Friseure von vornherein auch bei uns offengelassen hätte, dann wäre uns viel Ärger erspart geblieben.“ Vielmehr sei dadurch Schwarzarbeit gefördert worden, bei der die Hygiene nicht gewährleistet sei und Infektionsketten schwieriger verfolgt werden könnten.

Er rechnet vor: „Bundesweit gibt es rund 80.000 Friseure mit 240.000 Mitarbeitern. Die haben 700.000 Kundenkontakte pro Tag.“ Laut seiner Berufsgenossenschaft habe es dabei gerade einmal sieben Corona-Fälle gegeben. Dabei hatte Bundesgesundheitsminister Jens Spahn (CDU) noch im Herbst eingestanden, daß es ein Fehler gewesen sei, die Friseurgeschäfte zu schließen. Dennoch folgte auch für sie der zweite Lockdown.

Am 18. Januar dieses Jahres hatte Amberg schließlich Hartz IV beantragt. Zwei Wochen später reichte er eine Klage auf Lockerung und Wiedereröffnung beim Oberverwaltungsgericht in Weimar ein. „Bis jetzt gibt es dazu noch keine Entscheidung. Aber 15 weitere Friseure klagen ebenfalls.“

Für Angela Wanner kommt Klagen nicht mehr in Frage. 16 Jahre lang hatte die 49Jährige ein Nagelstudio im süd­thüringischen Hildburghausen betrieben. Bis Mitte Dezember. Dann, mit Beginn des zweiten harten Lockdowns, schloß sie ihren Laden. Für immer.

„Als ich damals angefangen hatte, gab es in Hildburghausen zwei Nagelstudios. Heute sind es acht“, erzählt sie davon, wie auch ohne Corona in den Jahren zuvor aufgrund der größeren Konkurrenz „der Kuchen immer kleiner geworden“ war. Und so hatte sie schon der erste Lockdown hart getroffen.

„Auch mental bin ich da in ein richtiges Loch gefallen. Da ging bei mir gar nichts mehr. Der Antrieb ist weg. Man steht auf, schleppt sich zum Waschbecken, sitzt nur noch zu Hause im Jogginganzug. Man fällt richtig in Depressionen“, erzählt sie von ihrer damals schwierigen Lage.

Am Anfang habe sie das noch locker genommen. „Ich sagte mir: Komm, die paar Wochen, die schaffst du.“ Die Wochen vergingen. Die Tage wurden trister. „Man hat nur noch abgehangen. Küche, Couch, Bett, Fernseher. Und man fragt sich: Wofür habe ich mir das alles eigentlich aufgebaut?“

„Das ist eine Mordpolitik gegen Unternehmer“

Gefährliche Gedanken kommen hoch. Schwarzarbeiten? Kommt für sie nicht in Frage. Die Gefahr einer Strafe, die Sorge, Covid-19 zu bekommen, all das hält davon ab. Den Kollegen anderer Nagelstudios gehe es ähnlich. „Hör auf mit dem Thema, ich bin nur noch am Heulen“, habe kürzlich eine von ihnen zu ihr gesagt. „Sie hatte 50 Prozent Umsatzeinbußen zu verkraften. Wenn sie gefragt wurde: Mensch, wie geht’s nun weiter? Da ist sie das Heulen angefangen“, beschreibt Angela Wanner die Tragödien, die sich in ihrer Branche derzeit abspielen.

Auch sie hatte zunächst auf die Bazooka, die große Unterstützung des Finanzministers gehofft. Aber da war dieses Kleingedruckte in den Förderungsvoraussetzungen. Demnach gibt es keine finanziellen Hilfen, wenn man sich mit seinem Unternehmen bereits in der Insolvenzeröffnung befindet. Ein Umstand, der auch auf Angela Wanner zutraf. Und so hatte sie schon beim ersten Lockdown kein Geld vom Staat erhalten können. „Diese Regelung ist natürlich der Todesstoß für all jene, denen das Wasser ohnehin schon bis zum Hals steht.“

Doch sie gab sich nicht geschlagen und kämpfte weiter für ihr Studio. Sie erfüllte die geforderten Hygieneauflagen, baute Plexiglasscheiben im Laden auf, hielt Abstandsregelungen ein. Kunden kamen einzeln und nur nach Terminvereinbarung. Mundschutz, Gummihandschuhe bei der Arbeit, Desinfektion der Hände. Und dann: Alles vergeblich. Im Dezember mußten auch Nagelstudios schließen. „Im gleichen Monat liefen 400 Demonstranten aus der Querdenker-Szene durch Hildburghausen. Ohne Abstände, ohne Masken und sangen ‘Oh wie ist das schön.’ Da beginnt man, an der Gerechtigkeit zu zweifeln.“ Angela Wanner will sich jetzt beruflich neu orientieren. Sie hat in Gotha eine Ausbildung zur Rechtsanwaltsfachangestellten begonnen.

Ali Ayhan hingegen ist bis jetzt noch mit einem blauen Auge davongekommen. Der 48jährige betreibt zusammen mit seiner Frau ein kleines Hotel mit zwölf Doppelzimmern und angeschlossenem Restaurant in Burgdorf, nordwestlich von Hannover. „Wir haben noch Glück gehabt. Eine holländische Firma hatte hier in der Gegend während des Lockdowns gearbeitet. Und ihre Mitarbeiter waren bei uns untergebracht.“ Weil beruflich bedingte Übernachtungen nach wie vor zulässig sind, hatte Ayhan somit zehn seiner zwölf Zimmer stets belegt. Aber: „Unsere Einnahmen aus dem Restaurantbetrieb sind natürlich vollkommen weggebrochen.“

Der 48jährige zählt zu den positiven Migrationsgeschichten in Deutschland. Mit 14 Jahren war er mit seinen Eltern aus der Türkei nach Deutschland gekommen. Nach der Schule schlug er sich als Maurergeselle durch, später machte er sich mit einer kleinen Pension im niedersächsischen Gifhorn selbständig. Erst vor zwei Jahren eröffnete er seinen neuen Hotelbetrieb in Burgdorf. „Auch viele Leute aus dem Ort kommen gerne zu mir zum Essen.“ Aber dann kam das neuartige Coronavirus. Den ersten Lockdown überstand Ayhan noch gut. „Trotz Auflagen hatten wir im Sommer viel zu tun gehabt, wir konnten nicht meckern.“ Als jedoch Berlin im Herbst den zweiten Lockdown verhängte, wurde es eng.

Alle Weihnachtsveranstaltungen mußten abgesagt werden. „Die Übernachtungen decken die Kosten. Aber auch nicht mehr. Wir müssen ja auch leben.“ Ali Ayhan mußte einen Kredit aufnehmen. „Corona macht uns langsam zur Ruine“, sagt er, während er am Tresen ein Bier zapft. „Wenn das jetzt bis Mai vielleicht noch so weitergeht, ist auch bei uns Schluß. Irgendwann hat man dann keine Lust mehr.“

Corona-Hilfen hat auch er nicht erhalten. Will er aber auch nicht. „Die sollen uns einfach in Ruhe unsere Arbeit machen lassen, so wie in Schweden“, sagt er und bringt seinen Unmut über die Politik und ihre Lockdown-Maßnahmen deutlich zum Ausdruck. „Das ist eine Mordpolitik gegen Unternehmer. Wir hatten von vornherein keine große Hoffnung, daß da Kosten übernommen werden“, macht sich Ayhan keine Illusionen. „Ein großer Schwindel ist das“, pflichtet ihm prompt ein einsamer Hotelgast bei.

Angesprochen auf das Corona-Management des Bundeswirtschaftsministers Peter Altmaier (CDU) macht er nur eine wegwerfende Handbewegung. „Da habe ich überhaupt keine Hoffnung.“ Viele Burgdorfer Mittelständler hätten auf Friedrich Merz gehofft. „Am besten als Bundeskanzler.“ Oder jetzt zumindest als Wirtschaftsminister.

Ali Ayhan läßt es sich nicht nehmen, uns persönlich zum Bahnhof zu fahren. Trotz Eisregens. „Es wird wärmer“, bemerkt er. Und hofft insgeheim auch beim Lockdown auf Tauwetter.





Umfrage unter Mittelständlern zu den Corona-Hilfen

Schwierige Anträge, sehr späte Auszahlung: Befragung von 1.600 Mitgliedern des Mittelstandsverbands BVMW

Umfrage durchgeführt zwischen dem 29. Januar und 5. Februar


Mußten Sie infolge der Corona- Pandemie staatliche Hilfen in Anspruch nehmen?

Ja: 60,7 Prozent

Nein: 39,3 Prozent



Wie sind Ihre Erfahrungen bei Beantragung und Auszahlungen der Corona-Hilfen?

Bürokratisch/kompliziert: 71,4 Prozent

Unbürokratisch/unkompliziert: 28,6 Prozent



Wie lange hat es gedauert, bis Sie eine beantragte Hilfszahlung erhalten haben?

Länger als 4 Wochen: 49,0 Prozent

Länger als 8 Wochen: 24,0 Prozent

Länger als 12 Wochen: 27,0 Prozent



Befürworten Sie eine Verlängerung des Lockdowns über den 14. Februar hinaus?

34,3 Prozent: ja

58,0 Prozent: nein

7,7 Prozent: keine Meinung