© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 08/21 / 19. Februar 2021

Begehrte Wohnungen
Stadtgestaltung: Der Plattenbau wird 50 und ist nicht wiederzuerkennen
Paul Leonhard

Die ideale sozialistische Großstadt zeichnet sich durch schnurgerade Straßen und einheitliche Wohnhäuser aus: endlose Gevierte fünfgeschossiger Plattenbauten, die ab und zu aufgelockert waren, durch standardisierte Hochhäuser, dreigeschossige Schule oder einetagige Sozialbauten. Durfte im Kunsterziehungsunterricht von der Stadt der Zukunft geträumt werden, hatte die genauso auszusehen, sollte es eine gute Note geben. Und wer zum Studium des Bauingenieurwesens zugelassen wurde, hatte in der Theorie Kranbahnen zu entwerfen, die eine effiziente Anlieferung und Montage der vorgefertigten Platten ermöglichte. Im Studentensommer waren dagegen die Schmuckelemente an Berliner Gründerzeitbauten abzuschlagen, auch der Effizienz wegen. So putzte es sich schneller.

Der Plattenbautyp WBS 70 war in seinen letzten 15 Jahren die Allzweckwaffe der Sozialisten gegen die seit Kriegsende permanente Wohnungsnot. Die ersten Neubauten in den nach Flächenbombardements der Alliierten abgeräumten Innenstädten hatten noch der städtebaulichen Tradition der jeweiligen Region Rechnung getragen, aber das erwies sich für die sozialistische Planwirtschaft als zu teuer. Nicht einmal die Großblockbauweise, die später als Altneubauten bezeichneten Bauten mit Schrägdach waren finanzierbar. So setzte das Zentralkomitee der SED auf seiner 5. Baukonferenz auf ein „Einheitssystem Bau“. An diesem sollte alles billiger sein als an den Vorgängertypen, und vor allem die Montage der in Betonwerken vorgefertigten Platten im einheitlichen Raster von 1,20 mal 1,20 Meter sollte schnell und problemlos möglich sein.

In Gummistiefeln durch den Schlamm

Gemeinsam entwickelten die Technische Universität Dresden und die Deutsche Bauakademie ab 1970 die Wohnungsbauserie 70, die unter dem Kürzel WBS 70 legendär wurde und von der bis zum Untergang des Arbeiter- und Bauernstaates 644.900 Wohneinheiten errichtet wurden. Und sie blieben bis zum Schluß begehrt, verfügten sie doch standardmäßig über Fernwärme, eine innenliegende Küche und ein Bad. Die Drei- und Vierraumwohnungen sogar über großzügige Loggien. Daß die Mieter in diesen Wohnungen keinen Hammer mehr benötigten, sondern selbst für das Anbringen eines Bildes zur Schlagbohrmaschine greifen mußten, war der Freude über die amtliche Wohnungszuweisung ebensowenig abträglich wie die Tatsache, daß die Blöcke so schnell montiert waren, daß die Gewerke mit dem Anschluß der Elektro- und Wasserleitungen sowie dem Abdichten der Fugen nicht hinterherkamen, ganz zu schweigen vom Wohnumfeld. Wer in eine Neubauwohnung einzog, bewegte sich noch Monate später in Gummistiefeln durch den von den Montagearbeitern hinterlassenen Schlamm.

Plattenbauten schossen überall zwischen Rostock und Zittau in die Höhe. Sie prägen bis heute das Stadt- und Landschaftsbild. Und da nach der Wiedervereinigung überraschenderweise der Boom auf die vernachlässigten Innenstädte ausblieb, begannen die genossenschaftlichen, kommunalen oder privatisierten Großvermieter bald über die Verbesserung der Bausubstanz nachzudenken. Die Wohnungen wurden gedämmt, Fahrstühle angebaut oder das oberste Stockwerk abgerissen. Das war schon zu DDR-Zeiten ein fauler Kompromiß gewesen. Denn sechs Geschosse hätten eigentlich zwingend den Einbau eines Fahrstuhls erfordert, was aber den Sozialismus überfordert hätte. So einigten sich die Genossen auf die Formel „fünf plus eins“.

Mit dem Einheitsbau schrumpfte der Staat nicht nur die bis dahin üblichen Wohnungsgrößen, sondern legte letztlich auch fest, wie die Räume zu nutzen waren. Wohn-, Schlaf- und Kinderzimmer war durch die Größe vorgegeben. Gleichzeitig waren die Möbelkombinate angehalten, platzsparende Schrankwände herzustellen. Für die Bürger, die das Glück oder die Verdienste hatten, eine Neubauwohnung zugewiesen zu bekommen, gab es in den Großstädten eigens errichtete Pavillons, in denen eine Handvoll Einrichtungsvarianten vorgeschlagen wurden.

Trotzdem dauerte es bis 1973, bis in Neubrandenburg der erste Wohnblock bezugsfertig war. Heute steht er unter Denkmalschutz. In Berlin-Hellersdorf kann eine komplett im Stil der DDR eingerichtete 61 Quadratmeter große Drei-Raum-Wohnung besichtigt werden. Jedes bauliche Element dort stammt original aus DDR-Zeiten.

Die Wohnungsbauserie überlebte die DDR

Die von den Sozialisten versprochene Lösung der Wohnungsfrage endete schließlich mit einem Volksaufstand, dem Ende ihrer Herrschaft und der deutschen Einheit. Die WBS 70 aber überlebte die DDR und ist heute vielerorts kaum noch als solche zu erkennen. Anfang der 1990er Jahre galten aber insbesondere die Plattenbau-Großsiedlungen in den neuen Bundesländern und in Osteuropa als „besonders eklatantes Beispiel städtebaulicher Fehlentwicklung, da in ihnen fast alle in Jahrtausenden gewachsenen Grundsätze eines humanen und nachhaltigen Städtebaus ignoriert“ wurden. So heißt es in einer Studie zum „Modellprojekt Dresden-Gorbitz“ von 1994, wo in 15.000 WBS-70-Wohnungen 40.000 Menschen lebten, viele davon in nur 32 Quadratmeter großen Einraumwohnungen ohne Loggia.

Hundertwasser gestaltete Plattenbau-Schule um

Offenbar rechtzeitig warnte damals Ingolf Roßberg, damals Dezernent für Stadtentwicklung und später Oberbürgermeister, vor dem schwindenden Image der Plattenbausiedlungen: „Die Gründe sind offensichtlich: die Monotonie sich scheinbar endlos wiederholender undifferenzierbarer Wohnzeilen und -grundrisse, bautechnische Mängel, ungenügende Behaglichkeit zwischen ungeputzten Betonwänden, der Schlafcharakter der Trabantenstädte, häufig noch unfertige, wenig attraktive Frei-, Grün- oder Stadtparkflächen, ungelöste Stellplatzprobleme ...“

In Wittenberg waren es Schüler im Kunstunterricht, die eine Lösung fanden. Sie entwarfen Anfang der 1990er Jahre ein neues Kleid für ihr 1975 errichtetes Luther-Melanchthon-Gymnasium und schickten dieses an den Künstler und Architekten Friedensreich Hundertwasser in Wien, der daraufhin aus dem tristen Plattenbau vom Typ „Erfurt II“ einen bunten Blickfang zauberte.

Aktuell bereitet das Dresdner Stadtmuseum eine Sonderausstellung zur „Platte“ vor. In dieser soll es nicht nur um die baugeschichtliche Seite gehen, sondern auch den Mythos WBS 70 insgesamt: „Wir wollen mit den Menschen ins Gespräch kommen, sie sollen uns erzählen, wie sie zu ihrer Wohnung gekommen sind und wie es sich angefühlt hat, in einem Plattenbau zu leben“, sagt Claudia Quiring, Kustorin für Baugeschichte und Stadtentwicklung des Dresdner Stadtmuseums. Gesucht werden auch Fotos aus der Bau- und Einzugszeit.