© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 08/21 / 19. Februar 2021

GegenAufklärung
Kolumne
Karlheinz Weißmann

Überraschung: Mit halbem Ohr höre ich, daß der Geistliche in der Morgenandacht zum Thema „Schiff“ sprechen werde. Die Hand zuckt schon in Richtung Aus-Knopf. Denn es steht zu erwarten: Kapitänin Rackete, Flüchtende, „Seenotrettung“ und deren Finanzierung durch die EKD, wahrscheinlich noch irgendetwas über die Verschmutzung der Weltmeere, die Gottlosigkeit der Kreuzfahrt und des Gebrauchs von Plastiktrinkhalmen. Doch dann lausche ich verblüfft den Ausführungen zur biblischen Erzählung von Noahs Arche, zur Symbolik des Schiffs als Bild der Gemeinde, zur Bedeutung des Kirchenschiffs und einer Auslegung der Geschichte von der Sturmstillung des Herrn.

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„Wißbegier“ ist nicht nur als Begriff anachronistisch.

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Die Frankfurter Allgemeine Zeitung hat Agnieszka Pufelska (in der Ausgabe vom 1. Februar) Gelegenheit verschafft, gegen den Wiederaufbau der Garnisonkirche zu polemisieren. Das irritiert, weil sie Mitglied des Wissenschaftlichen Beirats des „Lernorts Garnisonkirche“ ist, weniger weil sie als „deutsch-polnische Historikerin und Kulturwissenschaftlerin“ firmiert. Jedenfalls gehört die Loyalität Frau Pufelskas eindeutig Polen, nicht Deutschland, schon gar nicht Preußen. Ihr Narrativ läßt denn auch eine Menge preußischer Bösewichter auftreten: von Friedrich dem Großen, der die polnischen Teilungen zu verantworten hatte, über den Antisemiten und Slawenverächter Heinrich von Treitschke bis zu jenen Konservativen, die Seit an Seit mit Hitler den „Tag von Potsdam“ begingen. Das erklärte Ziel Frau Pufelskas ist, zu verhindern, daß sich etwas wie patriotischer Stolz an Preußen und dessen sichtbares Symbol, die Garnsionkirche, heftet. Wobei sie der Flankendeckung von deutscher Seite sicher sein kann. Gewiß werden unsere meinungsbildenden Kreise ihre Auffassungen teilen und weder Verzerrungen noch Auslassungen bemerken, oder, wenn doch, dann jederzeit stützen. Trotzdem sei hier ein Gedankenexperiment vorgeschlagen: Man erwäge, daß ein deutsch-polnischer Historiker in den wissenschaftlichen Beirat des Posener West-Instituts berufen würde. Hätte jemand genügend Phantasie, sich auszumalen, was passieren würde, sollte ihm das größte bürgerliche Blatt Polens eine halbe Seite einräumen, um zu erklären, daß es an der Zeit sei, das Jahrhundertverbrechen der Deutschenvertreibung aufzuarbeiten, sich dem Problem des Raubgutes zu stellen oder wenigstens in sich zu gehen, mit Blick auf die systematische Drangsalierung, Verfolgung und Polonisierung der verbliebenen Deutschen nach dem Ersten wie nach dem Zweiten Weltkrieg? Am Ergebnis solcher Überlegung kann kein Zweifel sein.

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„Was ich (…) nicht mehr will: die Tradition der Selbstbezichtigung, die gerade bei der deutschen Linken so üblich ist, fortsetzen. Wenn ausländische Genossen kommen, gibt es ein schlechtes Ritual: man hat sich zusammen mit denen über das deutsche Elend zu entsetzen, Deutschland wird in den schwärzesten Farben gemalt; die ganze Welt ist besser – nur Deutschland ist der vollkommene Horror. Ich mag diese Unterwürfigkeit nicht mehr: von ausländischen Genossen nur akzeptiert zu sein, wenn ich mein eigenes Land verleugne. Das ist eine Sackgasse, das steht in der Tradition der imperialistischen Entnazifizierung durch die gottverdammten Yankees, die die Demokratie bei uns verordnet haben.“ (Thomas Schmid 1978, nach seiner anarcho-kommunistischen und Sponti-Phase, bevor er zum Ökolibertären wurde, dann zum Befürworter neuer Bürgerlichkeit, dann zum wichtigen Akteur der Springer-Blätter Welt und Welt am Sonntag)

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Im Rahmen der französischen Debatte über eine förmliche Entschuldigung des Staatsoberhaupts und Reparationszahlungen an die ehemalige Kolonie Algerien hat der Afrikanist Bernard Lugan noch einmal zur Versachlichung aufgefordert. Er weist darauf hin, daß selbst für den Fall eines offiziellen Schuldeingeständnisses und folgender „Wiedergutmachung“ das Grundproblem der französisch-algerischen Beziehungen nicht gelöst werde. Denn die Identität Algeriens sei im wesentlichen eine antifranzösische. Das habe damit zu tun, daß Algerien – anders als das benachbarte Marokko, das ebenfalls zum empire gehörte – nie etwas wie eine Einheit war, sondern ein von verschiedenen, oft verfeindeten Stämmen besiedeltes, unter osmanischer Oberhoheit stehendes Territorium, das im 19. Jahrhundert an Frankreich überging. Das Fehlen echter Gemeinsamkeiten als Nation erkläre auch die Rigidität, mit der die Führung nach Erlangen der Unabhängigkeit ein arabisch-muslimisches Selbstverständnis durchzusetzen suchte. Den Preis zahlten nicht nur die eineinhalb Millionen Weißen, die vertrieben wurden, sondern auch die Berber, die massivem Assimilationsdruck ausgesetzt waren und sind. Zuletzt müsse man noch auf die psychologische Belastung durch die Lüge vom „Volksaufstand“ gegen die Kolonialmacht erwähnen. Nach Lugan dienten 250.000 eingeborene Harkis in der französischen Armee, nur 60.000 Partisanen in der Nationalen Befreiungsfront FLN.


Die nächste „Gegenaufklärung“ des Historikers Karlheinz Weißmann erscheint am 5. März in der JF-Ausgabe 10/21.