© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 08/21 / 19. Februar 2021

Ein Bürger zweier Zeiten
Zwischen Aufklärung und Romantik: Ein Gedenkblatt zum 275. Geburtstag des Gelehrten und Schriftstellers Wilhelm Heinse
Wolfgang Müller

Brot und Wein“ (1800/01), die umfangreichste von Friedrich Hölderlins geschichtsphilosophisch aufgeladenen Elegien, trägt die unscheinbare Widmung „An Heinze“. Akkurat hätte es Heinse heißen müssen. Denn gemeint ist der Dichterkollege Wilhelm Heinse, den der Frankfurter Hauslehrer Hölderlin im Sommer 1796 persönlich kennenlernte, als er mit seinem Zögling und dessen Mutter Susette Gontard („Diotima“), geflüchtet vor französischen Invasionstruppen, nach Bad Driburg ausgewichen war. Dorthin hatte es auch Heinse verschlagen, den Bibliothekar des Kurfürsten und Erzbischofs von Mainz, der es bereits 1792 vorzog, das Ende der „Freiheitsfarce“ einer kurzlebigen „Mainzer Republik“ von Frankreichs Gnaden im nahen Aschaffenburg abzuwarten. Noch nie, erinnert sich Hölderlin an den „herrlichen alten Mann“, habe er eine „so grenzenlose Geistesbildung bei so viel Kindereinfalt gefunden“.

So alt, wie es Hölderlin schien, war der am 16. Februar 1746 als Sohn eines Organisten und Stadtschreibers im Thüringer Marktflecken Langewiesen nahe Ilmenau geborene Mainzer Hofrat und Freigeist im kirchlichen Dienst freilich nicht. Und er war ihm zudem alles andere als fremd. Auf den Autor Heinse hielt er große Stücke, seitdem er sich während seiner Tübinger Stiftszeit in dessen Roman „Ardinghello oder die glückseligen Inseln“ (1787) vertieft hatte. Verbotenerweise, da dieses nach orthodoxem Urteil allen christlichen Moralvorstellungen ins Gesicht schlagende, die Selbstherrlichkeit des Ich und die „freie Liebe“ propagierende, im materialistischen Geist der Aufklärung eine göttliche Weltordnung leugnende Werk sich für angehende schwäbische Landpfarrer kaum zur Einstimmung auf ihren Berufsalltag eignete.

Generationen deutscher Literaturhistoriker bewerten den „Ardinghello“ hingegen in seltener Einmütigkeit als „epochemachend“. Einer ihrer Pioniere, Hermann Hettner (1821–1882), gab früh den Takt vor und rühmte diese „italienische Geschichte aus dem 16. Jahrhundert“ als „eine der denkwürdigsten und geistvollsten Schöpfungen der deutschen Literatur“.

Den antiken Idealstaat wiedererwecken

Vor dem Hintergrund der italienischen Wirrnisse zur Zeit der Renaissance, als Tyrannen wie die florentinischen Medici regierten, Kriege und Bürgerkriege tobten, stößt Heinse seinen Helden, den Maler Prospero Frescobaldi, Deckname Ardinghello, in einen Strudel von Abenteuern, die dieses Prachtexemplar eines Universalmenschen, der als malender, dichtender, musizierender Künstler genauso brilliert wie als Liebhaber, Raufbold und Seeräuber, allesamt glänzend besteht. Um schließlich mit seinem weiblichen Pendant, der jede Konvention verachtenden, die Ehe ablehnenden, sich dem Mann in jeder Weise gleichberechtigt fühlenden, ihm an Schönheit, Kraft und Ausbildung ebenbürtigen Römerin Fiordimona auf den „glückseligen“ Kykladen-Inseln Paros und Naxos seine Utopie eines Idealstaats zu verwirklichen. Dessen romantisches Ziel es ist, die griechische Polis wiederzuerwecken. Unter den Kolonisten herrscht Gütergemeinschaft, soziale und politische Gleichberechtigung, die Ehe ist abgeschafft, der Einzelne, jeder ein potentieller Universalmensch, erfreut sich unbeschränkter Freiheit des Genusses, das Christentum ist durch die Verehrung der Natur ersetzt.

Der Pöbel kann sich nicht selbst regieren

Diese Erneuerung der athenischen Demokratie findet jedoch als aristokratischer Sozialismus statt, ohne die breite Masse der Inselbewohner, weil das schöne enthemmte Dasein nur Edelmenschen wie Ardinghello und Fiordimona vorbehalten ist. Schließlich, so Heinses Überzeugung, dürfe es der Mehrheit der „Leidensfreien“ nicht erlaubt sein, den Erdenwandel der Hochgesinnten zu reglementieren, jener Menschen, die „so groß und schön sind“, daß sie die Moral der Dummen und Häßlichen nicht brauchen. Gesetze sind nur für den Pöbel, weil der sich nicht selbst regieren kann. Der Traum des Rousseau-Verehrers Heinse von der Entfaltung wahrer Humanität im Naturzustand realisiert sich also stillschweigend auf der Basis der antiken Sklavenhaltergesellschaft.

Der geistesgeschichtlichen Langzeitwirkung dieses ersten deutschen Künstlerromans tat die so provokative Fabel eines, nach heutigen Vorstellungen von Gleichheit und Gerechtigkeit maximal „undemokratischen, unsozialen“ Gemeinwesens keinen Abbruch. Schon Hölderlins „Hyperion“-Roman (1797/99), dessen Protagonist seine Gegenwartskritik am Maßstab vermeintlich vollkommener Zustände in der griechischen Vergangenheit formuliert, entsteht unter „Ardinghellos“ Einfluß. Lebensgefühl und Denkweise dieses prototypisch kreierten, allseitig ausgreifenden „Kraftgenies“ der Renaissance, dem übrigens sein Schöpfer, „ein kleines rundköpfiges Männchen mit schalkhaft hellen Augen“ (Hettner), so gar nicht ähnelte, bestimmen Ludwig Feuerbachs Diesseitsreligion der „Emanzipation des Fleisches“ genauso wie den ohne Feuerbach nicht denkbaren Karl Marx, den in „Hölderlinstimmung“ aufgewachsenen Visionär des klassenlosen irdischen Paradieses. Und selbstverständlich auch den Erfinder des „Übermenschen“, den „Antichristen“ Friedrich Nietzsche, der bis in Stileigentümlichkeiten hinein wie ein Wiedergänger Heinses erscheint.

Dessen 100. Todesjahr fiel 1903 in die Anfänge des Nietzsche-Kults und der wilhelminischen Renaissance-Begeisterung, die auch diesem Ur-Ahn des „Jenseits von Gut und Böse“ philosophierenden „Immoralisten“ neue Aufmerksamkeit bescherten. Doch erst wiederum hundert Jahre später, mit den monumentalen, historisch-kritisch edierten, gänzlich unpersönlichen Tagebüchern, den „Aufzeichnungen“ aus dem Nachlaß, dem „eigentlichen Werk“ (so der Literaturhistoriker Walther Brecht schon 1906) des auf Objektivität seiner Zeitdiagnosen versessenen Misanthropen, der glaubte, nur „seliges Weltohr und Weltauge“ sein zu können, gewann die ungeheure Vielseitigkeit des solitären Aufklärers und Romantikers Heinse erstmals schärfere Konturen.