© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 09/21 / 26. Februar 2021

„Eine gewisse Sterblichkeit hinnehmen“
IW-Studie: Deutschland müsse mit Sars-CoV-2 leben lernen / In drei Phasen zu einer „neuen Normalität“?
Paul Leonhard

In Berlin werden Querdenker als „Nazis“ beschimpft. Bei Corona-Skeptikern setzt die Polizei auf Recht und Ordnung statt auf Deeskalation. Im Kanzleramt oder dem Robert-Koch-Institut (RKI) hält man ebenfalls nichts von schnellen „Lockerungen“. Öffnungsschritte müßten mit vermehrten Tests gekoppelt werden, argumentierte Angela Merkel am Montag auf einer Online-Konferenz des CDU-Präsidiums.

Das Kontrastprogramm lieferte Sachsen-Anhalt: Beim CDU-Landesparteitag in Dessau und dem SPD-Pendant Magdeburg waren Delegierte ohne Maske zu sehen. Das lag nicht an einer harmlosen mitteldeutschen Sars-CoV-Mutante, sondern an Umfragen für den 6. Juni: Zusammen nur 40 Prozent für die beiden Parteien – 23 Prozent für die AfD. In NRW wetteifert die querdenkende Oppositionspartei zwar mit der FDP nur um Rang vier, doch CDU-Bundeschef Armin Laschet setzte sich vorige Woche dennoch von Berlin ab: „Wir können unser ganzes Leben nicht nur an den Inzidenzwerten abmessen.“

Der NRW-Ministerpräsident muß nicht nur in Düsseldorf den Wirtschaftsflügel mitnehmen, um als Kanzlerkandidat zu bestehen. Der „Perspektivplan für die Wiedereröffnung“ des CDU-Wirtschaftsrats – in dessen Präsidium Friedrich Merz, Ex-Ministerpräsident Roland Koch oder Mittelstandssprecher Christian Freiherr von Stetten sitzen – ist ein Kontrastprogramm zu Berlin.

Das arbeitgeberfinanzierte Institut der deutschen Wirtschaft (IW) in Köln geht weiter: „Die vollständige Eliminierung des Virus wird in unserer offenen Gesellschaft nicht gelingen“, erklärte Institutschef Michael Hüther anläßlich der Präsentation des Forderungspapiers „Aus dem Lockdown ins neue Normal“ (IW-Policy Paper 4/21). „Deshalb müssen wir ein gewisses Gesundheitsrisiko und leider auch eine gewisse Sterblichkeit hinnehmen, um dauerhaft zur Normalität zurückkehren zu können.“

„Offene Grenzen in Europa und darüber hinaus und fehlender flächendeckender Impfschutz lassen es wahrscheinlich erscheinen, daß dauerhaft mit einem verbleibenden Corona-Risiko umgegangen werden muß“, heißt es in dem IW-Papier. In der Corona-Pandemie gelte es, die Kosten ihrer Bekämpfung und die Schäden eines verbleibenden Risikos miteinander abzuwägen. Gemeint sind sowohl die gesundheitlichen Risiken durch das Virus als auch die ökonomischen und gesellschaftlichen Beeinträchtigungen. Je härter die Maßnahmen seien, um die Verbreitung des Virus zu stoppen, desto höher fielen die Opportunitätskosten aus – und die IW-Ökonomen rechnen anders als das RKI oder Ethikratsmitglieder.

Wie viele Corona-Tote dürfen wir hinnehmen?

Auf 19 Seiten analysieren Hüther und IW-Geschäftsführer Hubertus Bardt die entstandene Situation, taxieren die volkswirtschaftlichen Einbußen der Einschränkungen im Winter auf 3,5 bis fünf Milliarden Euro pro Woche oder gar – wenn wie im Frühjahr 2020 zusätzlich die Industrie getroffen werden sollte – sogar auf bis zu zehn Milliarden Euro. Angesichts dessen ist die Frage, ob eine Dosis Biontech/Pfizer-Vakzin 15, 30 oder 54 Euro kostet, zweitrangig – selbst der teuerste Preis wäre mit 4,48 Milliarden Euro billiger gewesen.

„Ein gesellschaftliches Optimum ist nicht bei dem Extremfall der vollständigen Vermeidung und Risikofreiheit zu suchen, sondern wird in einer Kombination aus geringer Verbreitung und guter Kontrolle des Virus und seiner Folgen liegen“, finden die IW-Autoren. Ihr Fazit lautet: „Das Ziel der absoluten und dauerhaften Eliminierung des Corona-Virus in Deutschland führt realistischerweise in eine Sackgasse und weist gerade keinen Weg aus den Lockdown-Einschränkungen.“ Solange Corona nicht weltweit verschwunden sei, bleibe immer ein Risiko der Ansteckung – eine Grenzschließung ist für die IW-Globalisten natürlich Teufelswerk.

Das gesellschaftliche Optimum liege in einer Kombination aus geringer Verbreitung und guter Kontrolle des Virus und seiner Folgen. Das IW-Dreistufenmodell sieht in der ersten Phase restriktive Notfallmaßnahmen bis zum Ausstieg aus dem Lockdown vor, in der zweiten die schrittweise Öffnung und Absicherung und in der dritten die dauerhafte Sicherung der Erfolge und eine neue Normalität. Um das „normale“ Leben mit dem dauerhaft verbleibenden Krankheitsrisiko abzusichern, sollte das Testen als Standard für den öffentlichen Raum fortgesetzt, ausreichender Impfschutz sichergestellt, die Reaktionsfähigkeit von Gesundheitsämtern und Schulen auf neue Krisensituationen erhöht, Behandlungsmöglichkeiten verbessert und die Maskenpflicht aufgehoben werden.

Hüther und Bardt spielen in ihrer Studie der Politik den Ball zu, indem sie eine Debatte darüber fordern, „wie viele Corona-Fälle und Corona-Tote das Land hinnehmen kann und will“. Und als früherer Geschichtsstudent weiß Hüther, daß solche Gedanken in Deutschland – anders als in England oder Schweden – auf Widerspruch stoßen: Das IW argumentiert, eine ähnliche Abwägung finde auch bei anderen ansteckenden und tödlichen Krankheiten statt. Die Formel müsse lauten „Mit dem Virus leben“. Was auch der Virologe Hendrik Streeck, Medizinprofessor an der Universität Bonn, genauso sieht.

Hüther, Streeck und Laschet unterscheiden sich damit weniger von AfD- und FDP-Positionen als von Markus Söder (CSU) oder vom Chef des Ifo-Insitituts, Clemens Fuest. Letzterer empfiehlt eine „No-Covid-Strategie“ aus vier Elementen: „Grüne Zonen + Früherkennung + TTI-Beschleunigung + lokales Ausbruchsmanagement“. Was ein Kommentator der Süddeutschen Zeitung auf die Frage reduzierte, ob inzwischen auch Laschet, „der seit bald zwölf Monaten jeden rigiden Lockdown“ mitverantwortete, nun „zum Kronzeugen von Querdenkern, Verschwörungsfabulierern und Corona-Leugnern“ mutiere?

„Aus dem Lockdown ins neue Normal“ (IW-Policy Paper 4/21):  www.iwkoeln.de





Perspektivplan des Wirtschaftsrats

Am Montag legte der CDU-Wirtschaftsrat seinen „Perspektivplan für die Wiedereröffnung von Wirtschaft und öffentlichem Leben“ vor. Darin sind drei Stufen vorgesehen: „Im Rahmen des ersten Öffnungsgrades werden die Impfungen ausgebaut, die Schulen geöffnet und die vulnerablen Personengruppen weiter mit höchster Priorität geschützt.“ Wichtig sei, eine „reibungslos abgewickelte Durchimpfung“ der Risikogruppen, relevanter Berufsgruppen und dann der Gesamtbevölkerung zu gewährleisten. Das Zieldatum im September sei „zu wenig ehrgeizig“. In der zweiten Stufe „öffnen Einzelhandel, Hotellerie und Gastronomie – jeweils unter bundeseinheitlichen Auflagen“, Sportveranstaltungen seien möglich. Nötig sei aber „ein Frühwarnsystem für Ausbrüche“. In der dritten Phase gehe Deutschland „in den vollständigen Normalbetrieb über“. Sämtliche Kontaktbeschränkungen fallen, die AHA-Regeln (Abstand, Hygiene, Maske) gelten indes weiter – „bis die Durchimpfung der Bevölkerung beendet ist“. (fis)

www.wirtschaftsrat.de