© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 09/21 / 26. Februar 2021

„Die Kontrolle über unser Schicksal zurückholen“
Finanzpolitik: Die Staatsschulden steigen weltweit, aber die Eurozone hat ein besonderes Problem / Ist ein großzügiger Erlaß der einzige realistische Ausweg?
Dirk Meyer

Die Verschuldung steigt und steigt weltweit. Spitzenreiter sind die USA: Im Januar lag der öffentliche Schuldenstand bei 27,78 Billionen Dollar – 4,56 Billionen mehr als ein Jahr zuvor. Die japanische Regierung rechnet in diesem Jahr mit einem Schuldenanstieg auf umgerechnet 13,6 Billionen Dollar. Die Negativsalden der 19 Euro-Mitgliedsländer summierten sich im 3. Quartal 2020 auf 11,1 Billionen Euro (umgerechnet etwa 13,1 Billionen Dollar).

Amerikaner oder Japaner können sich ihr Geld im Notfall selbst „drucken“, sollten In- und Ausländer ihre Staatsanleihen verschmähen. Die Euro-Krisenstaaten können das nicht mehr. Zu Lira-Zeiten war das anders. Da hätte sich Mario Draghi, der neue italienische Ministerpräsident, das Geld für den Corona-Wiederaufbau von der Banca d’Italia besorgen können. Doch seit 1999, dem Start der Währungsunion, ist der Euro für jeden Mitgliedstaat eine Fremdwährung.

Euro-Staatspapiere von 2,5 Billionen Euro stillegen?

Keine Regierung hat mehr den direkten Zugriff auf die „Notenpresse“. Lediglich die Euro-Münzen fallen weiter in den Zuständigkeitsbereich der einzelnen Länder. Außerdem verhindern das Verbot der monetären Staatsfinanzierung sowie das Gebot der Unabhängigkeit der Europäischen Zentralbank (EZB) das „Gelddrucken“ – eigentlich. Denn seit 2015 kauft die EZB in großem Stil Staatsanleihen – bislang für über 2,6 Billionen Euro (Stand September 2020). Damit hält sie 23,7 Prozent der Staatsschulden der Mitgliedstaaten in ihrer Bilanz. Zwar kauft die EZB die Papiere nie direkt vom Staat, was ihr verboten ist. De facto ist die Kontrolle durch Private auf dem Kapitalmarkt erheblich eingeschränkt. Gemäß verschiedenen Studien wurde der Kreditzins um 0,4 bis 1,3 Prozentpunkte heruntermanipuliert. Der Risikozuschlag italienischer gegenüber deutschen Bundesanleihen liegt aktuell bei einem Prozent. Der Grund: Investoren spekulieren darauf, daß Italien im Zweifel „herausgehauen“ wird.

Das Problem ist die Schuldenlast. Für Ende 2020 wurden Schuldenstandsquoten (Staatsschulden in Relation zum Bruttoinlandsprodukt/BIP) für Griechenland von 207 Prozent, für Italien von 160 Prozent und für Portugal von 135 Prozent prognostiziert. Das Staatsdefizit Italiens lag 2020 bei 10,8 Prozent des BIP. Bei wieder ansteigenden Kapitalmarktzinsen wird die Zinslast die Staatsetats treffen – die Rückzahlungsfähigkeit erwiese sich als Illusion: Es drohen Staatsinsolvenzen.

Daher entfachte David Sassoli, italienischer Sozialdemokrat und Präsident des EU-Parlaments, die Diskussion um eine Staatsentschuldung. Seither reißt die Debatte nicht ab. Etwa 70 Prozent der italienischen Staatspapiere liegen bei den Inländern, ein Großteil bei den dortigen Banken und Versicherungen. Ein Schuldenschnitt würde in deren Bilanzen tiefe Löcher reißen und eine erneute europäische Bankenkrise entfachen. Deshalb fordern die 110 Unterzeichner eines kürzlich veröffentlichten Ökonomenaufrufs die Streichung von 2,5 Billionen Euro in den Büchern der Euro-Notenbanken, um so die „Kontrolle über unser Schicksal zurückzugewinnen“.

Mit von der Partie sind beispielsweise die französischen Ökonomen Thomas Piketty (JF 50/20), Aurore Lalucq und Jézabel Couppey-Soubeyran, der ungarische Sozialist László Andor, bis 2014 EU-Kommissar und geistiger Vater der EU-Arbeitslosenversicherung, oder Paul Magnette, Politologe und Parteichef der wallonischen Sozialisten. Ihr Münchhausen-Trick sähe so aus: Die bei der EZB und den nationalen Zentralbanken lagernden Staatspapiere werden entweder ersatzlos gestrichen oder formal in „ewige Anleihen“ (JF 5/21) umgewandelt, also zins- und tilgungsfrei gestellt. Damit wären die aufgekauften Anleihen wertlos und die Euro-Staaten um gut 20 Prozent entschuldet.

Es droht Verlust der geldpolitischen Steuerung

Da eine Notenbank nicht pleite gehen kann, entsteht hier kein Problem – also eine ideale Lösung zu Nullkosten? Die Banque de France, die Banca d’Italia, die Belgische Nationalbank oder die Banco de España müßten aufgrund des immensen Verlustausweises mit einer Eigenkapitallücke leben – was möglich wäre, aber im internationalen Währungswettbewerb in dieser Größenordnung als Manko gesehen werden würde. Zudem kommt ein Gutachten des Bundestages zu dem Ergebnis, daß der Verzicht auf Tilgung und Zins gegen das Verbot der monetären Staatsfinanzierung verstößt.

Auch EZB-Präsidentin Christine Lagarde hat sich entsprechend geäußert. Um diesem Vorwurf zu entgehen, befreite sich die EZB anläßlich des Griechenland-Schuldenschnitts 2012 trickreich: durch die Einführung einer neuen Wertpapierkennummer für die von ihr gehaltenen Papiere. Der gewichtigste Einwand besteht jedoch im Verlust der geldpolitischen Steuerung. Wenn die Inflation anziehen sollte – und Indizien wie die Auflösung der in der Krise aufgestauten Geldhorte durch nachholenden Konsum sprechen dafür –, dann fehlen der Notenbank die Staatspapiere.

Mit ihrem Verkauf müßte sie das überschüssige Geld wieder einsammeln und stillegen. Doch durch die „pfiffige“ Entschuldung mutiert die jeweilige Notenbank zu einem Auto, dessen Fahrer das Lenkrad aus dem Fenster geworfen hat. Einer drohenden Inflation hätte sie nichts entgegenzusetzen.

Was also tun? Da die Verschuldenslage vor der Corona-Zeit national verursacht ist, sollte sie auch national gelöst werden – gemäß den Prinzipien der Eigenverantwortung und der Subsidiarität. Zudem ist Italien kein ein armes Land. Allerdings besteht dort eine Diskrepanz zwischen öffentlicher Armut und privatem Reichtum. Nach methodisch vergleichbaren Erhebungen der nationalen Zentralbanken (2014) hat die Hälfte der italienischen Privathaushalte ein Nettovermögen von 138.000 Euro und mehr, während das mittlere Vermögen in Deutschland nur bei rund 60.000 Euro liegt. Aufgrund von sehr hohen Vermögen einzelner Haushalte lag der Durchschnittswert deutscher Privathaushalte zwar mit 214.500 Euro zum italienischen Wert (218.000 Euro) in etwa gleichauf. Aber damit hätte Italien eine relativ breite Basis für eine zwangsweise „Entschuldungsabgabe“.

Diese könnte eine einmalige Vermögensabgabe (ähnlich dem deutschen Lastenausgleich nach dem Zweiten Weltkrieg), ein periodischer Steuerzuschlag („Corona-Soli“) oder eine Zwangsanleihe für Vermögende sein. Bereits 2014 schlug die Bundesbank zur Lösung nationaler Zahlungskrisen eine Zwangsabgabe vor. Seit 2012 gibt es in Italien bereits eine „Patriotenanleihe“ auf freiwilliger Basis – warum nicht zukünftig eine Corona-Zwangsanleihe für inländische Vermögende?

Würde man die Pflicht auf die oberen zehn Prozent der besonders Vermögenden beschränken, müßten diese pro Person etwa 86.000 Euro anlegen – niedrig verzinst mit sehr langer Laufzeit. Demokratische Legitimation und Verwendungskontrolle würden das nationale Gemeinwesen stärken, die Wirtschaftlichkeit und Wirksamkeit der öffentlichen Verausgabung fördern und langfristige Konflikte in der EU vermeiden helfen.






Dirk Meyer lehrt Ökonomie an der Helmut-Schmidt-Universität Hamburg.

Aufruf europäischer Ökonomen: „Cancel the public debt held by the ECB and ‘take back control’ of our destiny“: www.euractiv.com