© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 09/21 / 26. Februar 2021

Die Tyrannei der Schwätzer
Gesinnungsdemonstration: Wie die Hyperinformation eine neue Kultur der Eintönigkeit hervorbringt
Konstantin Fechter

Weit am Horizont, dort wo Himmel und Erde einander berühren, ragt eine Festung über die Gischt der See. Durch ihr undichtes Mauerwerk trägt der Wind unaufhörlich die Wortfetzen aller Gespräche dieser Erde. Sie surren und dröhnen über die dunklen Gänge der niemals stillen Burg. Den dort hausenden Schrecken der Leichtgläubigkeit, des Irrtums, dem Geflüster und der Zwietracht dienen sie als Festmahl. Gierig werden sie verschlungen, mästen aufgedunsene Schuppenbäuche mit dem Gerede und den Hoffnungen der Menschheit.

Auf der höchsten Turmzinne thront über all dem Fama, die Göttin des Gerüchts. Unter jeder ihrer schwarzen Federn befindet sich ein aufgerissenes Auge, ein lauschendes Ohr oder ein faselnder Mund. Sie hört und sieht alles. Nichts entgeht ihr, und je mehr Äußerungen in die Feste gesogen werden, desto gigantischer wächst ihre Gestalt empor.

Mit Abscheu spricht der Dichter Ovid in seinen Metamorphosen von Fama. Er kannte sie, war es doch das Gemunkel über die Obszönität seiner Gedichte, welches den Unmut des Kaiser Augustus erregte und später zu Ovids Verbannung ans Schwarze Meer führte. So wurde er Opfer seines Erfolges, denn in die Öffentlichkeit zu treten, bedeutet sich schutzlos der Göttin des Geschwätzes ausgeliefert zu wissen.

Vermutlich werden viele Römer, die damals eine Meinung über Ovid besaßen, ihn überhaupt nicht gelesen haben. Das war auch nicht nötig. Im Schatten der Marktstände, im Dampf des Caldariums oder beim Besuch einer gemütlichen Gemeinschaftstoilette fand sich schnell ein kundiger Auskunftgeber, der freudig das mitteilte, was er selbst erst vor wenigen Stunden erfahren hatte. Über Wochen, Monate, Jahre neigte sich Mund an Ohr und flüsterte die Kunde weiter. Bis sich eines Tages ein besorgter Mund an das aufmerksame Ohr des Imperators wandte. Hier fand das Gerede sein Ende, forderte ernsthafte Konsequenzen ein.  

Der Mensch liebt die Sprache. Ihre Kraft zur Abbildung der Dinge, den geschliffenen Ausdruck und lyrischen Zauber. Noch mehr aber liebt er das Geschwätz, das schnellstmögliche Aneinanderreihen von Wörtern zu einem unreflektierten und ungefilterten Strom. Schwätzerei ist kein Sprechakt, sondern eine soziale Machttechnik, die ihren eigenen Regeln folgt. Sie dient allein der Überwältigung des Gegenübers, das nicht als gleichberechtigter Gesprächspartner gilt, sondern als Konkurrent um die Ressource Aufmerksamkeit. Wahrheitsgehalt und Authentizität sind dabei weniger von Bedeutung als Laustärke und Dominanz. Daraus resultiert ein asymmetrisches Gefälle und das Verschwinden des Gesprächs in Form eines ernsthaften Dialogs. Denn der geschwätzige Sender degradiert die Adressaten zu stummen und widerspruchslosen Empfängern seiner Botschaft.

Trotz seiner Alltäglichkeit haftet dem Geschwätz etwas Unheimliches, gar Bedrohliches an. Einmal freigesetzt, läßt es sich nicht mehr einfangen. Es liegt in der Natur von Gerüchten und übler Nachrede, daß sie schnell ein dynamisches Eigenleben entwickeln. Gleiches gilt für ihr positiv besetztes Gegenstück, den Ruhm. Fakten und Substanz bedeuten ihnen nur wenig, viel wichtiger ist die Sensation, welche sie transportieren. Je größer deren Anziehungskraft ist, desto leichter finden sich neue Wirte und das exponentielle Wachstum beginnt.

Für ihr Anschwellen zum Flächenbrand benötigt es jedoch einen bestimmten Menschentypus. Der Schwätzer besitzt einen blassen Charakter und blüht erst durch die Verbreitung des Gesprächsstoffs richtig auf. Da sein Geist eigentlich nichts zur Konversation beitragen kann, übernimmt er gängige Meinungen und trägt diese mit leidenschaftlichem Nachdruck vor. Er liebt das Moralisieren, verschafft es ihm doch gleich eine erhöhte Ausgangsstellung, um seine Rednerkonkurrenz zu übertönen. Als ein Schoßhund der Mächtigen versucht er ihre Launen zu erahnen und in vorauseilendem Gehorsam jene zu drangsalieren, die bald in Verruf geraten. Über diesen kreist er wie ein Aasgeier, der den sozialen Tod ankündigt. 

In seinem ursprünglichen Naturell ist der Schwätzer eine lästige, aber harmlose Gestalt. Gefährlich wird er erst, wenn er beginnt, sich selbst für voll zu nehmen. Elias Canetti kam auf diesen Sozialtypus in seiner 1974 erschienenen Betrachtung „Der Ohrenzeuge“ zu sprechen. Dort überführte er die antiken Schilderungen menschlicher Charakterzüge durch den Philosophen Theophrast in eine moderne Entsprechung. Er verwies auf den Fehlredner, jene Art von Schwätzer, der sein Gegenüber nicht nur verbal niederringen, sondern zugleich mit einer ideologischen Botschaft bekehren will. Nicht auf das Verstummen seines Gegenübers hat der Fehlredner es abgesehen, sondern auf dessen Zustimmung. Er durchstreift die Gassen und hält Ausschau nach den Leichtgläubigen und Schwachen, die sich nur zu gerne beeinflussen lassen. Dies verleiht ihm schöpferische Kraft, er ist nicht mehr bloßer Multiplikator von Nachrichten, sondern Manipulator der Massen.

Ärger über die Schwätzerei gab es in der Kulturgeschichte viel. Schon Plutarch verfluchte sie, und Ambrosius von Mailand sah in ihr Ausdruck sündhaften Lebens. Mittelalterliche Ratgeber des höfischen Lebens warnten vor den klaffaerre, den Kläffern und ihren Schmähreden. Der kleinkriminelle Wanderdichter François Villon braute in der Mitte des 15. Jahrhundert gar einen besonderen literarischen Sud zu deren Abwehr. In seiner berüchtigten Ballade „Die Lästerzungen“ wollte er diese in dem Urin von Eselstuten, Krötensaft und Ausfluß von Huren schmoren, um sie endgültig zum Schweigen zu bringen. Letztendlich aber waren auch die widerspenstigsten Literaten der Übermacht des Geschwätzes ausgeliefert. Trost fanden sie allein in der Gewißheit, daß dieses nur eine begrenzte Reichweite besaß und sie lediglich soweit verfolgen konnte, wie der Ruf der Marktschreier drang.

Das Zeitalter der Informationstechnologie beendet jedoch das Diktat der lokalen Beschränkung. Im neuen globalen Dorf erfährt der Schwätzer eine noch nie dagewesene Präsenz und Universalität. Die Weltgemeinschaft sammelt sich am virtuellen Stammtisch und stellt einen unermeßlichen Vorrat an Aufmerksamkeitsressourcen zur Verfügung.

Der Austausch von Information wird aber durch ihr Überangebot marginalisiert und gerät zur Bühne für den narzißtischen Selbstdarstellungstrieb der Engagierten. Diese leisten jedoch keinen eigenen Debattenbeitrag, sondern folgen den aktuellen Moden von Moralkitsch und Betroffenheitskultur. Dadurch entsteht die Hyperinformation als dominierende Form der Mitteilung. In dieser treten Fakten und nüchterne Betrachtungsweise hinter einer Gesinnungsdemonstration zurück. Nicht mehr die Übermittlung und Einordnung von Ereignissen ist von Bedeutung, sondern die Darstellung der persönlichen Reaktion auf diese. Da kein Verständnis für die Prozesse des Außen vorherrscht, wird über die innere Gefühlswelt schwadroniert.

Dies führt zur Vergesellschaftung von Emotionen wie Empörung und Abscheu vor gegensätzlichen Ansichten. Die Brauchbarkeit einer Aussage ergibt sich nicht mehr aus ihrer Nützlichkeit für den Diskurs, sondern aus ihrer Kompatibilität mit den Haltungsfiltern der sozialen Medien. Die Hyperinformation wird zur Grundlage der Freund-Feind-Erkennung. Denn wer erkennbar „Falschinformationen“ unterstützt – worunter alle mit einem bestimmten Milieu gesinnungsinkompatiblen Meinungen fallen – gerät ins Abseits. Die Fehlredner und ihr Geschwafel haben dadurch Hochkonjunktur. 

Dieser Bewußtseinszustand der neuen Medialität wurde auf vorausahnende Weise in der Lithographie „Das Gerücht“ von A. Paul Weber dargestellt. In dieser prescht ein schlangenartiges Wesen mit gespitzten Ohren und überdimensioniertem Mund durch eine Schlucht von Hochhäusern. Ihr länglicher Körper setzt sich aus Hunderten Zungen und Augen zusammen, die ihre Umgebung ständig überwachen. Es kann sich nur um Fama persönlich handeln, die endlich ihre Festung verlassen hat und zu ihren Jüngern gekommen ist. Diese stürzen sich in Begeisterung aus den Fensterlöchern, um eins mit der Göttin zu werden und ihr als Nahrung zu dienen. Gemeinsam bilden sie eine amorphe Masse der Hyperinformation, die kein Halten mehr kennt auf der Jagd nach ihrer Beute.

Insbesondere die schreibende Klasse nistet sich nur allzu gern in den Nestern der Zwitscherplattformen ein. Hier können die Haltungszeiger und Überzeugungsträger ungestört miteinander balzen. Daß die Austauschmöglichkeit auf wenige Sätze beschränkt ist, hat System. Es entsteht dort jedoch keineswegs eine neue Kunst der Aphorismen. Vielmehr offenbart sich das Ende der Lesekultur, da es sich bei diesen Notaten nur noch um die Verschriftlichung des Lärms von der Straße handelt. Er ermöglicht es den Gewissenswächtern, Befehle an ihr Gefolge (vulgo Follower) zu bellen. Schnell setzt sich die Empörungsmeute mit ihrem Betroffenheitsvokabular in Marsch und überzieht den Meinungsabweichler mit dem ihr innewohnenden Zorn der Überflüssigen. Ziel ist sein Kniefall vor dem Altar der Selbstdistanzierung. 

Vor allem im Elfenbeinturm der bunten Vielfalt bringt die Überwachung des eigenen Milieus gehöriges Renommee. Dort hat sich eine nahezu krankhafte Reizbarkeit gegenüber der Herausforderung durch andere Positionen breitgemacht. Wie früher die Zünfte dienen nun die sozialen Medien dazu, jeden Dissidenten zu identifizieren und durch das strafende Kollektiv wieder auf Linie zu bringen. Je gehetzter dieser erscheint, je taumelnder seine Schritte wirken, desto mehr Münder springen aus den Schatten und prügeln sich um eine Trophäe zum Beweis für die erfolgreiche Jagdteilnahme. Widerstandslos kapituliert die Medienbranche vor der Blockwartsmentalität ihrer aggressivsten Vertreter und erfüllt durch ihre Gleichschaltung in Eigenregie die kühnsten Tyrannenträume von einer kritiklosen Öffentlichkeit.

Das größte Haßobjekt für Fehlredner ist der Geheimnisträger. Er spricht nur, wenn er etwas zu sagen hat, ansonsten schweigt er. Indem dieser Undurchschaubare nicht in den Chor ihrer Selbstverständlichkeiten einstimmt, gerät er bald in den Verdacht, ein Gefährder zu sein. Sein Unwillen, das Innerste nach außen zu kehren, deutet darauf hin, daß dort etwas Dunkles versteckt sein muß. Als Quelle seiner Autonomie wird eine verborgene Agenda ursächlich gemacht. Die Gesinnungsprüfer bringen sich gegen ihn in Stellung, durchleuchten seine Vita auf belastende Kontakte und wühlen in Kellern nach vergrabenen Leichen.

Auf diese Niederungen läßt sich der Geheimnisträger jedoch nicht herab. Indem er sich dem Lärm verweigert, demaskiert er die Tyrannei der Schwätzer als das, was sie ist: ein um sich selbst kreisender Schwarm von Ressentiment, Häme und Redundanz. Ihre Kakophonie der Empörung führt unausweichlich zu einer umfassenden Nivellierung und Verödung von Meinungen. Wenn alle aber das gleiche reden, muß gar nicht mehr gesprochen werden. Es ist die Tragik des Informationszeitalters, daß es im großen Schweigen enden wird. 






Konstantin Fechter veröffentlichte im Kulturteil zuletzt die Essays „Abels Rache“ über das Nomadentum als dominierende Lebensweise (JF 5/21) und „Das Lachen des Jokers“ über postmoderne Ironie (JF 2/21). 

Foto: Louis de Silvestre, Personifikation der Fama, Ausschnitt eines Deckengemäldes im Mathematisch-Physikalischen Salon des Dresdner Zwingers: Die Göttin des Gerüchts hört und sieht alles, nichts entgeht ihr