© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 09/21 / 26. Februar 2021

Churchill im Visier der Cancel Culture
Frontalangriff: Auch die britische Kriegsikone gerät als „Rassist“ immer heftiger unter Beschuß
Julian Schneider

Nach heutigen Maßstäben war Winston Churchill ein Rassist und Anhänger der „weißen Vorherrschaft“, aber führte er tatsächlich ein Empire, das „schlimmer als die Nazis“ war? Am Churchill College an der Universität Cambridge, das der Ex-Premierminister 1958 mitgegründet hatte, war kürzlich eine gnadenlose Generalabrechnung mit ihm angesagt. In einer bemerkenswert einseitig besetzten, landesweit beachteten Podiumsdiskussion verfiel Churchill (1874–1965) der totalen Verdammnis.

Wird die britische konservative Kriegsikone der nächste Fall für die Cancel Culture? Churchill und sein Empire seien nicht besser als die Nationalsozialisten, sondern sogar verwerflicher gewesen, meint Kehinde Andrews. „Das britische Empire war weit schlimmer als die Nazis und es dauerte länger“, befand der Soziologe, der in Birmingham die erste Professur für Black Studies im Vereinigten Königreich ergattert hat. Panelredner verwiesen auf die bis zu drei Millionen Toten bei einer Hungersnot 1943 in Bengalen, für die Churchill angeblich vorsätzlich verantwortlich sei.

Der Frontalangriff auf den Kriegspremier kratzt am nationalen Selbstbewußtsein der Briten. Schon bei „Black Lives Matter“-Demonstrationen im vergangenen Jahr war Churchills Statue vor dem Parlament in Westminster Ziel von Farbattacken und „Rassist“-Schmierern geworden. Zeitungen wie der konservative Telegraph, die liberale Times, die rechte Daily Mail und das Massenblatt Sun druckten wütende Reaktionen. Premierminister Boris Johnson, ein großer Churchill-Verehrer, warf sich für den Kriegspremier in die Bresche. Das Land, gerade erst aus der EU ausgetreten, leidet schon seit längerem unter Empire-Phantomschmerzen: Für die einen die Quelle von Nostalgie, für die anderen nur noch Zielscheibe geschichtspolitischen Furors.

Herabwürdigung „weißer Leben“

Alle Bezüge zum Empire und zum Kolonialismus sollen getilgt werden, fordern radikale Linke. Das Empire wird nur noch als rassistische Veranstaltung gesehen. Daß die Briten bei der Abschaffung des Sklavenhandels führend waren, daß sie nach 1807 Kriegsschiffe einsetzen, um ihn zu unterbinden, fällt unter den Tisch, ebenso daß die Briten in den Kolonien auch viel aufbauten und eine relativ inkorrupte Verwaltung einsetzten und den modernen Rechtsstaat etablierten. Churchill-Verteidiger wie der Historiker Andrew Roberts sagen, daß der Premier auch gekämpft habe, um „Hunderte Millionen Nicht-Weiße zu schützen“.

Bei den Anklägern ist ein recht simples Muster zu erkennen: Weiße sind Täter – immer und überall. Figuren wie Kehinde Andrews, Autor von „The Psychosis of Whiteness“, oder Priyamvada Gopal geben sich wenig Mühe, ihren umgekehrten Rassismus zu verbergen. Gopal, die die Paneldiskussion am Churchill-College organisiert hat, twitterte vergangenes Jahr zu den BLM-Protesten: „I’ll say it again. White Lives Don’t Matter.“ Später legte sie nach mit der Forderung „Weißsein abschaffen!“ Ihre Herabwürdigung „weißer Leben“ verhinderte nicht, daß sie kurz darauf in Cambridge zur Professorin für post-koloniale Literatur befördert wurde. Andrews zeigte wiederum viel Verständnis für die Forderung einiger studentischer Aktivisten, den Lehrplan des SOAS-Colleges an der Uni London von weißen Denkern (von Platon bis Kant) zu säubern und diese weitgehend durch afrikanische oder asiatische Philosophen zu ersetzen. Vom Antirassismus zum Haß auf alles Weiße scheint es kein weiter Weg zu sein.

Es ist auch kein Zufall, daß zwar Churchills angebliche Verantwortung für die Hungersnot in Ostindien hervorgehoben wird, die Massenbombardements deutscher Städte wie Dresden, denen Zehntausende Zivilisten und Flüchtlinge zum Opfer fielen, von den Aktivisten der „Critical Whitness“ kaum erwähnt oder ethisch problematisiert werden.

Das Massaker von Dresden im Februar 1945 wird in Großbritannien überwiegend gerechtfertigt. Zu Churchills Luftwaffengeneral Arthur Harris hört man nur selten kritische Stimmen. Die Statue für Bomber-Harris im Londoner Zentrum fand sich zwar auch auf der Liste der „Stürzt die Rassisten“-Denkmalstürmer, aber nicht das Dresdner Kriegsverbrechen wird dort erwähnt, sondern „Kriegstreiberei in Rhodesien“ und „Bombardements von Dörfern in Mesopotamien in den frühen 1920ern“. Auf seiten der Churchill-Verteidiger bei den Tories wird Churchills Kriegführung gegen NS-Deutschland dagegen als heroischer Akt stereotyp gefeiert, der alle anderen möglichen Fehler und Defizite überstrahlt.

Anders als in Deutschland, das nach der Dauervergangenheitsbewältigung nur noch ein gebrochenes Selbstbewußtsein hat, existiert im britischen Königreich doch noch überwiegend ein stabiler Nationalstolz. Bei den regierenden Konservativen gibt es den Reflex, Angriffe auf historische Figuren abzuwehren. Als der Mob im vergangenen Frühjahr eine Reihe von Statuen stürzte (etwa in Bristol die des Unternehmers, Politikers und Stadtmäzens Edward Colston, der als Mitglied der Royal African Company im späten 17. Jahrhundert am Sklavenhandel beteiligt war), reagierte die Regierung indigniert. Innenministerin Priti Patel, selbst Tochter von indisch-ostafrikanischen Einwanderern, verurteilte, daß die Polizei den Mob nicht gestoppt habe. Noch vor wenigen Tagen verurteilte Patel abermals, was sie in Bristol gesehen hatte, als „entsetzlich“. Sie werde auch nicht, wie von BLM-Aktivisten gefordert, „aufs Knie“ gehen. Allerdings hat man durchaus britische Polizisten gesehen, die diese Demutsgeste vor schwarzen oder braunen Demonstranten vollzogen.

Umbenennung von Straßen oder Institutionen 

Die „Black Lives Matter“-Bewegung hat in Britannien inzwischen auch die Umbenennung einer Reihe von Schulen oder Uni-Gebäuden angestoßen, darunter ein paar, die nach General Robert Clive, dem Gouverneur von Bengalen („Clive of India“) im 18. Jahrhundert, hießen. In 130 Stadträten mit Labour-Regierung gibt es Bestrebungen, umstrittene Statuen, die Namen von Straßen oder Institutionen zu entfernen.

Allerdings ist die Welle schon wieder abgeebbt, und es gibt auch Gegenkräfte. Kulturminister Oliver Dowden wies Museen und den National Trust an, nicht auf Druck von Aktivisten ihre Institutionen zu „säubern“. Die Times zeigte vor wenigen Tagen, daß hinter den Säuberungsinitiativen oft genug Linksradikale, etwa Mitglieder der Socialist Workers Party, stehen und Petitionen auch tausendfach aus dem Ausland gezeichnet wurden.

Geradezu harmlos, aber auch bezeichnend war jüngst die Nachricht, daß die Brauereikette Greene King vier Pubs mit vermeintlich rassistischen Namen wie „The Black Boy“ umbenennt, um eine „echt antirassistische Organisation“ zu werden. Auf der Insel existieren noch etwa 70 Black-Boy-Pubs geben. Vermutlich wird ihnen nicht mehr lange helfen, darauf hinzuweisen, daß „Black Boy“ ein liebevoller Spitzname für König Charles II. war. Antirassismus-Aktivisten interessieren solche historischen Feinheiten nicht. Wie auch in Deutschland müssen wohl alle „Mohren“-Namen früher oder später daran glauben.

Immer mehr in Mode kommt an britischen Universitäten und in linken Medien wie dem Guardian die aus den USA stammende „Critical Race Theory“. Diese betrachtet alle gesellschaftlichen Strukturen unter der Annahme einer weißen Vorherrschaft und Unterdrückung; sie sieht alle Weißen als strukturelle, kollektive Täter und Unterdrücker, alle Nichtweißen per se als Opfer.

Bemerkenswert war vor einigen Wochen der Auftritt der Equality-Ministerin Kemi Badenoch im Parlament. Die junge Tory-Politikerin, deren Eltern aus Nigeria kamen und als Arzt und Professorin arbeiteten, wies die „Kritische Rassentheorie“ und das Konzept der „Weißen Privilegien“, die es zu überwinden gelte, scharf zurück. Damit würden Schwarze pauschal in eine Opferrolle gedrängt, dies sei wie ein Gefängnis, das lehne sie ab. Wenn Schulen beim „Black History“-Monat ihre Schüler mit der pauschalen Behauptung „weißer Privilegien“ indoktrinieren, sei dies illegal.

Wie die Minsterin im Parlament Labour entgegentrat und linke Lieblingsdogmen zerfetzte, hat Eindruck gemacht. Beispiele wie Priti Patel und Kemi Badenoch auf der einen Seite und Priyamvada Gopal sowie Kehinde Andrews auf der anderen zeigen, daß die Konfliktlinien im Kulturkampf quer zu Hautfarben verlaufen können.