© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 09/21 / 26. Februar 2021

Stifter der Religion des Vaterlandes
Literaturhistorie: Eine Anthologie zur Hölderlin-Rezeption erinnert an die Deutschen als Kulturvolk
Wolfgang Müller

Je schneller die Abschaffung Deutschlands voranschreitet, desto lauter tönt die Beschwörung, die ausufernde Ruinenlandschaft sei das beste Deutschland, das es je gab. Stephan Harbarth, Wirtschaftsanwalt und CDU-Parlamentarier, 2018 ausgekungelter Präsident des Bundesverfassungsgerichts, urteilt da inzwischen etwas vorsichtiger. So sprach er neulich nur noch vom Status quo als der „besten Republik unserer Geschichte“. Obwohl Harbarth die Konkurrenz damit auf nur einen Mitbewerber, die Republik von Weimar, reduziert, fällt auch dieser Vergleich pauschal nicht zugunsten der Bundesrepublik aus.

Das springt jedem ins Auge, der sich in die von Thomas Kuzias edierte, Zeugnisse aus der Kaiserzeit, der Weimarer Republik und dem Dritten Reich versammelnde stattliche Anthologie über das „Selbstgespräch der Zeit in der deutschen Hölderlinrezeption“ vertieft. Wer sie sich nicht schon längst zum inneren Exil gewählt hat, dem erschließt der Band die Hochkultur des alten Deutschland mit ihrem atemberaubenden Reichtum.

Die Identität nahm kaum Schaden

Quantitativ überwiegen zwar Texte von Germanisten, Publizisten und Literaten, die den im 19. Jahrhundert nahezu vergessenen Friedrich Hölderlin (1770–1843) nach 1918 als „Dichter der Deutschen“ entdecken und an Goethes Seite rücken. Aber es wird deutlich, daß ungeachtet der tiefen Zäsuren, dem Wechsel von der Hohenzollernmonarchie zur Weimarer Republik und deren Ablösung durch die NS-Diktatur, die in der Klassik und im Neuhumanismus der Goethe-Zeit wurzelnde, im Kulturstaat des Reiches von 1871 befestigte kulturelle Kontinuität und bildungsbürgerliche Identität kaum Schaden nahm. Die Kette dieser Überlieferung reißt erst nach 1968.

Kuzias ist ein intimer Kenner der Geistesgeschichte dieser Epoche. Gerade darum dürfte es wohl sein schwierigstes Problem gewesen sein, aus der Fülle des Materials eine repräsentative Auswahl zu treffen. Um sichtbar zu machen, wie die Reichsdeutschen im Medium der „außerordentliche Wirkungsmacht“ auf ihre „Seelenlage“ ausübenden Dichtungen Hölderlins versuchten, ihr Menschen- und Weltbild zu klären, sich im Denken und Handeln zu orientieren, durchzieht Kuzias seine Sammlung mit drei „roten Fäden“. Der erste ordnet die Dokumente der „vaterländischen Thematik“ zu. Denn die Rezeption steht seit der ersten, sich zum 150. Geburtstag im düsteren Bürgerkriegs-März 1920 auftürmenden Welle der Hölderlin-Renaissance bis hin zu den vom idealistischen Pathos erfüllten Gedenkfeiern im Stalingrad-Jahr 1943 im Zeichen des „Schöpfers der Religion des Vaterlandes“, wie ihn Friedrich Wolters 1926 in einer hier abgedruckten Festrede preist. Zum „Sänger des Volkes“ (Wilhelm Michel) und geistigen Führer der Nation avancierte der Dichter aber bereits während des Ersten Weltkrieges, nicht zuletzt dank der ersten historisch-kritischen Werkedition, die der 1916 vor Verdun gefallene Norbert von Hellingrath auf den Weg gebracht hatte. Diesen Rezeptionsstrang zu ächten, hat die bundesdeutsche Hölderlin-Forschung sich alle Mühe gegeben. Daß er trotzdem nicht als „kruder Nationalismus“ abzutun ist, will Kuzias’ beweisen, indem er die Quellen sprudeln läßt.

Der zweite rote Faden knüpft an Hölderlins Fixierung auf „die Götter“ an. Was bedeuten seine Götter? Um diese „entscheidende Hölderlin-Frage“ kreisen die geschichtsphilosophisch inspirierten Deutungen im nach-metaphysischen „totalitären Zeitalter“. Mit Hölderlin stand für alle Interpreten nur fest, wer an die Stelle tritt, wenn sich die Götter von den Menschen zurückziehen: „Allein zu sein, Und ohne Götter, ist der Tod.“

Schließlich der dritte rote Faden; er trägt den Namen des Schriftstellers und Privatgelehrten Wilhelm Michel (1877–1942), den Friedrich Beißner den „Winckelmann eines neuen Hölderlin-Verständnisses“ nannte. Er sei es gewesen, der vor 1914 „die Wende bewirkte“ und der mithalf, Hölderlin einer breiteren Öffentlichkeit als „Mehrer unsrer Wirklichkeit“ zu vergegenwärtigen. Zu Recht berücksichtigt Kuzias also den Freund von Hellingraths, „einen der bedeutendsten Hölderlin-Forscher“ (Alessandro Pellegrini, 1965), mit einem guten Dutzend Wortmeldungen zwischen 1911 und 1941.

Von Michels Gestalt ist zugleich die einzige Kritik an dieser Edition abzuleiten: Zu ihm wie zu allen anderen Beiträgern fehlt es leider an biographischen Informationen. Das ist schade, denn nicht nur der scheinbar unvereinbare Widersprüche verkörpernde Wilhelm Michel, Nationalist, „Bildungschauvinist“, Pietist mit pazifistisch-linken Sympathien, Weltbühne-Mitarbeiter und Bert-Brecht-Gegner, den Antisemitismus als „Verrat am Deutschtum“ geißelnder Patriot mit guten Beziehungen zu Martin Buber, steht dafür, daß auch die sich in der Hölderlin-Rezeption spiegelnde politische Kultur des Reiches mit ihrer wahrhaft pluralistischen Vielstimmigkeit, Medienvielfalt, Meinungsfreiheit und Toleranz, zumindest bis 1933, jene der vermeintlich „besten Republik unserer Geschichte“ extrem alt aussehen läßt.

Thomas Kuzias (Hrsg.): Das Selbstgespräch der Zeit in der deutschen Hölderlinrezeption. Zeugnisse aus drei Epochen. Leipziger Universitätsverlag, Leipzig 2020, 752 Seiten, gebunden, Abb., 72 Euro