© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 09/21 / 26. Februar 2021

Der Große Bruder wird noch größer
Albtraum Transparenz: Von Kontrollmechanismen der Aufklärung führt eine Spur zum heutigen Überwachungskapitalismus
Felix Dirsch

Theorien über die Moderne gibt es wie Sand am Meer. Jürgen Habermas sieht die Möglichkeiten dieser Epoche, die er in einem fulminanten, 1980 erstmals veröffentlichten Essay gegen die Vertreter der Postmoderne verteidigt, als nicht ausgeschöpft. Das „Projekt der Moderne“ sei unvollendet. Habermas skizziert als deren fortwirkendes Ideal, die kognitiven Potentiale von objektivierenden Wissenschaften, universalistischen Grundlagen von Recht und Moral sowie autonomer Kunst zu entbinden, um sie für eine vernünftige Gestaltung der Lebenswelt zu nutzen.

Der Adorno-Schüler erkennt aber noch eine andere Linie des seit der frühen Neuzeit andauernden Großprojekts: die Transformation der Fortschrittskräfte in effiziente technische Umwälzung, ökonomisches Wachstum und rationale Verwaltung. Die Zersplitterung der Vernunft und die Autonomisierung von Spezialsektoren macht er für die Schwächung des emanzipatorischen Aufbruchs verantwortlich, der auch heute noch von bedeutenden Intellektuellen-Entwürfen des 18. wie 19. Jahrhunderts zehrt.

Zu dieser Moderne, die von Max Weber als „stählernes Gehäuse der Hörigkeit“ bildhaft erfaßt wurde, zählt die Spur der Kontroll- und Überwachungsmechanismen. Als spezifische Form der immer wieder neu auszubuchstabierenden „Dialektik der Aufklärung“ ziehen sie sich vom 18. Jahrhundert bis in die Gegenwart.

Am Anfang dieser Entwicklung steht ein Sinnbild. Der vielseitig gebildete Privatgelehrte und utilitaristische Philosoph Jeremy Bentham (1748–1832) schafft – wie etliche andere Aufklärer – neue theoretische Grundlagen des Strafvollzuges. In diesem Kontext konzipiert er auch neue Gefängnisbauten. Die Anstalt für Häftlinge entwirft er als Panopticon. Das kreisrunde Gebäude, öfter skizziert, enthält offene Zellen, die so angelegt sind, daß der Wärter, in der Mitte stehend, alle Insassen beobachten kann. Für jedes straffällig gewordene Individuum ist eine Zelle vorgesehen. Masseninhaftierung in einem Raum, so das Gebot, widerspricht der Humanität. Alles ist hygienisch, ordentlich und überaus transparent.

Nichts könnte eher dem Idealbild der Aufklärung entsprechen als ein solches Gedankenkonstrukt. Der „Big-Brother-Knast“ (Richard D. Precht) wird aufgrund widriger Umstände zwar nicht gebaut, gleichwohl in Teilen Europas intensiv diskutiert, denn er trifft den Geist der Epoche. Später denkt Bentham über die Möglichkeit nach, ein Panopticon für Arme und Bedürftige errichten zu lassen, ebenso eines, das als Fabrikgebäude fungieren soll.

Die Leibesmarter kam aus der Mode

Nun war immer klar, daß solche imaginäre Observationsarchitektur als eine Anspielung auf einen groß angelegten Paradigmenwechsel interpretiert werden kann. Dafür existieren viele Belege. Es blieb dem französischen Philosophen und Psychologen Michel Foucault vorbehalten, die neue Inspektionsbeflissenheit des späten 18. Jahrhunderts im Rahmen einer weit ausgreifenden Disziplinierungstheorie der Neuzeit zu erörtern. Am Beginn seiner längst klassischen Studie „Überwachen und Strafen“ wird ein grausamer Vorfall des Jahres 1757 geschildert: Gliedmaßen des Körpers eines zum Tode verurteilten Vatermörders wurden in einem öffentlichen Ritual mit Stricken an vier Pferde angebunden. Diese liefen auseinander und zerfetzten das Opfer. Das Schauspiel hinterließ bei den Zusehern tiefe Eindrücke.

In den folgenden Jahren kam eine derartige Leibesmarter aus der Mode. Formen der Züchtigung praktizierten die Behörden, wenn überhaupt, zunehmend anonym. Neuartige Theorien des Rechts und des Strafvollzuges setzten sich langsam durch. Im Zuge von Reformen wurde auch der Pranger in Frankreich 1789 abgeschafft. Daß Strafe dennoch sein muß, wenn auch primär aus Gründen der Prävention, war für das aufgeklärte Bewußtsein im Zeitalter großer Revolutionen unstrittig. Theoretiker richteten ihr Augenmerk zunehmend statt auf den körperlichen Schmerz auf die Seele. Die Tiefe des Herzens, des Denkens und des Willens sollte erfaßt und berührt werden.

Foucault geht es bei seinen Analysen zuerst darum, am Beispiel des „permanenten Sichtbarkeitszustandes des Gefangenen“ herauszustellen, daß damit auf neue Weise das „automatische Funktionieren der Macht“ sichergestellt werde. Der Gelehrte betrachtet den „Panoptismus“ als exemplarisch für nachwirkend-subtile Machtmechanismen und -dispositive.

Von hier läßt sich leicht der Bogen ins 20. Jahrhundert bis in die unmittelbare Gegenwart spannen. Für die großen Dystopien des vergangenen Zentenniums sind die Überwachungssysteme zentral. Die fiktive Diktatur Ozeaniens wird in George Orwells Jahrhundert-

roman „1984“ als observierende geschildert: „Es war sogar denkbar, daß sie ständig alle beobachtete. Sie konnte sich jedenfalls jederzeit in jede Leitung einschalten.“ Der tragische Held in dieser Erzählung merkt schnell, daß „jedes Geräusch, das man verursachte, gehört und, außer bei Dunkelheit, jede Bewegung beäugt wurde“.

Überwachungskapitalismus als neuartige Variante

Das technische Spitzelsystem ist heute weitaus raffinierter als zu Orwells Zeiten. Damals hatte der Zugriff der „Gedankenpolizei“ viele Grenzen, die heute längst nicht mehr existieren. Die damaligen Kontrollmöglichkeiten erscheinen im Abstand von über sieben Jahrzehnten harmlos im Vergleich zu den gegenwärtigen. Der „Große Bruder“ ist längst überdimensional.

Intensiv wurde in den letzten Jahren über die „digitale Diktatur“ (Stefan Aust/Thomas Ammann), den „digitalen Totalitarismus“ (Frank Schirrmacher) und den „Überwachungskapitalismus“ (Shoshana Zuboff) diskutiert. Diese Autorin definiert „Überwachungskapitalismus“ als durch Technik ermöglichte Logik, „menschliche Erfahrung als Rohstoff zur Umwandlung in Verhaltensdaten“ zu verwenden. Man fertigt Vorhersageprodukte, die das Handeln des Einzelnen sogar antizipieren können. Dadurch werden Gewinnanreize geschaffen, die bereits jetzt riesig sind.

Diese Form des Kapitalismus ist eine neuartige Variante der alten industriellen Spielart, die weithin noch mit dem Faktor des begrenzten Wissens rechnen mußte, wie Markttheoretiker wie Friedrich von Hayek stets betont haben. Der „Überwachungskapitalismus“ verbindet Freiheit mit Allwissenheit. Weiter ist die strukturelle Unabhängigkeit vom Menschen ein Charakteristikum, da der Adressat der großen Datensammler sich an Gruppen, Populationen und so fort richtet, nicht zuerst an die Individuen. Die kollektivistische Ausrichtung ist evident, die antidemokratischen Implikationen sind es ebenso. Ein Entrinnen ist kaum möglich. Die Gefahren des Verlusts an menschlicher Autonomie und Souveränität sind nicht hoch genug einzustufen.

Man ist an den „Panoptismus“ erinnert, wenn Zuboff die schöne neue Welt des „Big Other“ und seiner instrumentellen Wirkkräfte beschreibt: „Es darf keine Winkel und Ecken mehr geben, in denen man sich einrollen und die Freuden stiller Innerlichkeit genießen kann.“ Das „Privileg der Freistatt“, stets ein Antidot zur Ausweitung von staatlicher wie privater Macht, geht sukzessive verloren.

Wer die Puppenspieler im Hintergrund sind, die die digitalen Drähte ziehen, ist nicht immer klar. Die großen Internetriesen sind ganz maßgeblich mit dabei. Niemand hat es gewagt, die Worte des Google-Managers Eric Schmidt als Prahlerei zu bezeichnen: „Wir wissen, wo du bist. Wir wissen, wo du warst. Wir können mehr oder weniger wissen, was du gerade denkst.“ Wer aber das große „Wir“ ist, wollte er nicht sagen.