© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 09/21 / 26. Februar 2021

Zweierlei Mütter
Literatur: Cora Stephans Roman „Margos Töchter“ umspannt sieben Jahrzehnte deutscher Geschichte
Thorsten Hinz

Leonore Seliger, Jahrgang 1949, ist eine der vier weiblichen Hauptfiguren in Cora Stephans neuem Roman „Margos Töchter“. Zeitlebens trägt sie ein Trauma, ein Kindheitstrauma, mit sich. Beim Spielen mit den Nachbarskindern saß sie oben auf der Wippe und bemerkte nicht, daß die anderen sich zum Absprung verabredet hatten. Die Wippe sauste zur Erde und zertrümmerte ihren Fuß. Nie wieder wollte sie versäumen, rechtzeitig abzuspringen!

Doch den richtigen Moment zu erfassen, erweist sich als schwierig. Sie wächst gutsituiert in der Nähe von Osnabrück auf. Ihre Eltern sind aus der DDR geflüchtet. Zu Hause gibt ihre Mutter Margo den Ton an. Andere Mädchen ihres Alters sind hübscher und schlagfertiger. Leonore schließt Freundschaft mit einer anderen Außenseiterin, die sie in ein alternatives Milieu einführt, wo die neueste Rockmusik gespielt, geraucht, getrunken wird. Und wieder verpaßt sie den Absprung. Sie gerät in die Razzia der englischen Militärpolizei, die nach Deserteuren sucht.

Beim Studium verliebt sie sich in einen charismatischen Typen, der gut im Bett ist und es auf ihr Geld, vor allem aber auf ihre Papiere abgesehen hat, die in der Terroristenszene Verwendung finden. So gerät sie in die RAF-Fahndung und kann ihr Auslandsjahr in den USA nicht antreten. Sie nimmt das „Make love, not war“ ernst und weiß hinterher nicht, wer ihre Schwangerschaft verursacht hat. Die Abtreibung macht sie gebärunfähig. Mittlerweile Ehefrau eines Frankfurter Politik-Professors, nimmt sie die 1977 geborene Jana an Kindes Statt an.

Jana ist die Tochter einer Frau, die in der DDR aus politischen Gründen im Zuchthaus gesessen hat. Nach ihrem Freikauf taucht sie bei Margo auf aus Gründen, die nur sie beide kennen. Am nächsten Tag ist sie verschwunden unter Hinterlassung der kleinen Tochter. Leonore hat das Gefühl, daß das Kind und sie beschattet werden. Oder ist es nur Einbildung? Leidet sie an Verfolgungswahn? 1991 tötet sie sich durch einen absichtlich verursachten Autounfall. Oder ist es gar kein Selbstmord?

Jana macht sich auf die Suche und wird unter anderem im Stasi-Archiv fündig. Sie erfährt, daß sie zwei Mütter und trotzdem mütterlicherseits nur eine Großmutter hat, Leonores Mutter Margo. Wie alles das zusammenhängt mit dem Chaos des Krieges, der deutschen Teilung, der Stasi, dem DDR-affinen linken Milieu in der Bundesrepublik, stellt sich am Ende von Cora Stephans atemlosem Parforceritt durch mehr als sieben Jahrzehnte deutscher Geschichte heraus.

Cora Stephan: Margos Töchter. Roman. Kiepenheuer & Witsch, Köln 2020, gebunden, 400 Seiten, 22 Euro