© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 09/21 / 26. Februar 2021

Der Warner vor griechischen Verhältnissen
Vor fünf Jahren starb der Soziologe Michael Kelpanides / Realistische Analysen zu Fehlentwicklungen im Heimatland und in seiner akademischen Disziplin
Volker Kempf

Als der am 18. Juli 1945 in Thessaloniki geborene Michael Kelpanides am 29. Februar 2016 starb, blieb das ein kaum wahrgenommenes Ereignis. Er stand nicht im Fokus der Medien, war ein Pendler zwischen den Welten in Deutschland und Griechenland. Seine akademische Ausbildung zum Soziologen absolvierte Kelpanides vor allem in Frankfurt am Main, aber auch in Wien. Er studierte zudem Philosophie, Psychologie und Musikwissenschaft, von 1978 bis 1985 war er Wissenschaftlicher Angestellter am Deutschen Institut für Internationale Pädagogische Forschung in Frankfurt, dem er verbunden blieb und wofür er noch öfter nach Frankfurt kam. Berufen wurde Kelpanides 1985 an die Universität Thessaloniki, publizierte aber weiter in deutscher Sprache. Sein letztes Buch unter dem Titel „Politische Union ohne europäischen Demos?“ erschien 2013. Die fehlende Gemeinschaft der Europäer wurde von Kelpanides als Hindernis der politischen Integration betrachtet, weshalb sie ihm nicht zu weit gehen konnte, ohne negative Auswirkungen zu zeitigen. 

EU-Schuldenhaftung nach 2010 war Kardinalfehler

Mit der 2010 eingeleiteten Schuldenhaftung den Maastricht-Vertrag aufzuweichen sei ein Kardinalfehler gewesen. In Interviews legte Kelpanides 2011 und 2012 anschaulich dar, wie Griechenland über die Verhältnisse lebe und eine Schuldenhaftung durch andere EU-Staaten nicht nur nicht heilsam sei, sondern alles noch schlimmer mache. Kelpanides überzeugte mit einer bemerkenswerten Wirklichkeitsnähe: Griechenland sei überaus linksideologisiert. Wände von Hochschulen würden in einem bemerkenswerten Ausmaß zur Plattform von  Parolen. Die Sympathisantenszene gewaltbereiter Gruppen sei groß. Hier liege das Problem für Gewaltausbrüche, nicht bei einer angeblich zu kurz gekommenen jungen Generation. Im griechischen Hochschulwesen fehle es an akademischer Konkurrenz, es käme zu Berufungen mit zu geringer Beachtung fachlicher Qualifikation. Da spielten wissenschaftsfremde Dinge hinein. Das schade nicht nur der Wissenschaft des Landes, sondern auch der Politik, die sich auf diese Wissenschaft stütze. 

Was für Kelpanides in Griechenland nur zu offensichtlich wurde, war ihm aber auch in Deutschland nicht fremd. Auch hier registrierte Kelpanides Fehlentwicklungen. Sein 1999 vorgelegtes Buch „Das Scheitern der Marxschen Theorie und der Aufstieg des westlichen Neomarxismus – Über die Ursachen einer unzeitgemäßen Renaissance“ aus dem Jahr 1999 seziert Einflüsse in der deutschen Soziologie, die ihm viel mit Machtansprüchen einzelner Kohorten im akademischen Bereich zu tun hatten. Darunter leide eine empirische Fundierung der Theorie. Das Urteil fällt in dem Karl Popper gewidmeten Buch so ernüchternd wie resignativ aus und wurde weitgehend mit Schweigen quittiert. Kelpanides blieb hier seiner 1976 vorgelegten Arbeit „Zur Problematik der logisch-methodischen Einheit von Natur- und Sozialwissenschaften“ verbunden. Diese Veröffentlichung verteidigte den Objektivismus in den Sozialwissenschaften. Zwar konnten für Kelpanides auch andere, qualitative Methoden angewandt werden und könnten einen Erkenntnisgewinn bedeuten, etwa die geisteswissenschaftlich ausgerichtete biographische Methode im Anschluß an Wilhelm Dilthey. Aber das mußte für Kelpanides im Orientierungsrahmen einer objektiven Wissenschaft eingebunden bleiben, sollte der Beliebigkeit nicht Tür und Tor geöffnet werden. Kelpanides war ein solider Forscher mit einem unbestechlichen Blick für verdeckte Widersprüche, die ihm nur zu oft rhetorisch bemäntelt wurden. Michael Kelpandies bleibt mit seinen Schriften und seiner Geradlinigkeit über seine Lebensspanne hinaus ein denkwürdiger Soziologe.