© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 10/21 / 05. M?z 2021

„Es ist ein Skandal“
Die Amadeu-Antonio-Stiftung ist zu einem der beliebtesten Stichwortgeber von Politik und Medien in Sachen Extremismus geworden. Zu Recht? Jörg Drieselmann, Geschäftsführer des Berliner „Stasimuseums“, warnt, sie fördert selbst Ideologisierung und Feindbilder
Moritz Schwarz

Herr Drieselmann, die Amadeu-Antonio-Stiftung will die Geschichte der DDR umschreiben, meldet die „Welt am Sonntag“. Überrascht Sie das?

Jörg Drieselmann: Nein. Jede Wissenschaft, auch die Geschichtswissenschaft, ist ein nie endender diskursiver Prozeß, der natürlich multiperspektivisch, ergebnisoffen und der Wahrheit verpflichtet sein sollte. Insofern steht die Diskussion für jeden offen, auch für die Amadeu-Antonio-Stiftung.

„Multiperspektivisch“, „ergebnisoffen“ etc. – ist das bei der AAS zu erwarten?

Drieselmann: Nein, aber das muß es auch nicht, denn die Verarbeitung von Zeitgeschichte ist sowieso nie allein Sache der Historiker. Sie ist ein gesellschaftlicher Prozeß, an dem sich unterschiedliche Menschen, auch politische Institutionen beteiligen. Diese zeitgeschichtliche Debatte muß vielstimmig sein. Deshalb ist es auch das gute Recht Anetta Kahanes, der Vorsitzenden der Stiftung, mitzureden. Auch wenn ich persönlich eigentlich nicht von einer früheren Inoffiziellen Mitarbeiterin des Staatssicherheitsdienstes über die DDR belehrt werden möchte.

Also alles kein Problem und Entwarnung?

Drieselmann: Zum drittenmal nein. Denn die AAS möchte die NS-Diktatur zum alleinigen Dreh- und Angelpunkt der Zeitgeschichte erklären und damit die DDR als ein Resultat des Nationalsozialismus darstellen. Einerseits ist das trivial, denn in der Geschichte hängt alles mit allem zusammen. Andererseits sollte uns das Wissen um die Komplexität geschichtlicher Zusammenhänge an der Herleitung einer solchen Kausalität hindern. Das würde Hitler statt Stalin zum Gründervater der DDR machen. Das hielte ich für äußerst gewagt.

Was wird damit bezweckt? 

Drieselmann: Die dem totalitären Denken zugrundeliegende Gut-versus-Böse-Dichotomie – also: wir sind gut, die anderen böse –, ist in Links versus Rechts umbenannt worden. Wie lange diese Zuschreibungen schon beliebig verwendet werden, kann man daran sehen, daß Goebbels die NSDAP als die „deutsche Linke“ verstand und Stalin die Sozialdemokratie den „Zwilling des Faschismus“ nannte. Nun, wer Politik macht, rechtfertigt sein Handeln gern mit Geschichte. Es soll etwa der Beweis angetreten werden, daß die Rechte an grundsätzlich allem Übel in der Geschichte schuld ist, während die Linke dem Widerstand entgegensetzt. Und wer „rechts“ ist, das bestimmen heute Organisationen wie die AAS. In der deutschen Gesellschaft hat sich in den letzten Jahren ein großes Konfliktpotential entwickelt, das auf der politischen Ebene nicht mehr gespiegelt wird. Um sich mit Kritikern nicht sachlich auseinandersetzen zu müssen, werden sie nur mehr als „rechts“, „rechtspopulistisch“ oder gar „rechtsextremistisch“ bezeichnet. Indem die Amadeu-Antonio-Stiftung solche Feindbilder definiert und aufrechterhält, vertieft sie die Polarisierung der Gesellschaft, anstelle sie zu überwinden.

An diesem Feindbild arbeiten doch viele mit, ist die AAS da denn so bedeutend?

Drieselmann: Eigentlich ist sie mit ihren nur dreißig Mitarbeitern unbedeutend. Andererseits gibt es im Bereich Stiftungen nicht viele, die derart hohe Förderbeträge aus Steuermitteln erhalten – womit die AAS wiederum etwa eintausend andere „zivilgesellschaftliche“ Projekte im Lande fördert. Zudem ist sie wie kaum eine andere solche Einrichtung mit großem politischen Einfluß ausgestattet. Ihre Vertreter werden von Politik und Medien immer wieder um Rat und Hilfe, um Stellungnahmen und öffentliche Auftritte gebeten.

Wie ist es der – bei ihrer Gründung 1998 unbedeutenden – Stiftung gelungen, eine so bedeutende Rolle zu erlangen?

Drieselmann: Sie kam zur rechten Zeit und stieg mit dem Zeitgeist auf. Zu verdanken ist das auch Frau Kahane, die sich gut zu vernetzen und ihren Verein straff zu führen weiß. Und schließlich, weil die AAS liefert, was gewünscht ist, eben die Markierung von Regierungskritikern als „rechts“. Das ist für beide Seiten lohnenswert. Die Politiker müssen sich mit den Argumenten der „Rechten“ nicht mehr auseinandersetzen, und die ASS hat für die Zukunft ihre üppige Förderung gesichert. Der Zuschauer oder Leser hat den Eindruck, der Journalist hole die Meinung eines Experten einer unabhängigen Stiftung ein.

Aufgabe der Medien wäre es, die Stiftung kritisch zu hinterfragen, Aufgabe der Politik, sie hinsichtlich Verfassungstreue und finanzieller Förderung kritisch zu prüfen. Warum passiert das nicht?

Drieselmann: Es gibt vereinzelt Versuche, denken Sie etwa an den Welt am Sonntag-Artikel, den Sie eingangs zitiert haben oder daran, daß 2011 die damalige CDU-Familienministerin Kristina Schröder finanzielle Förderung von einem Bekenntnis zur freiheitlich-demokratischen Grundordnung abhängig gemacht hat – was aber keinen Bestand hatte. Zudem gibt es mittlerweile zwischen den etablierten Parteien kaum noch Unterschiede. Der einstigen Arbeiterpartei SPD sind Genderpolitik und „Energiewende“ wichtiger als die Not der Geringverdiener. Die CDU, einst konservative Partei, die mit ihrer sozialen Marktwirtschaft Deutschland aus der Nachkriegsnot führte, ist nur noch Kanzlerinnenwahlverein. Und die FDP nimmt an jedem Zeitgeistsalto teil und hat dabei ihre grundsätzlichen Werte, Freiheit und Rechtsstaatlichkeit, ganz aus den Augen verloren. Grüne und Linke mußten sich nicht verändern, sie waren schon immer sozialistisch. Unser Parteienspektrum ist also in Richtung Sozialismus abgedriftet. Die Rechnung,  damit dennoch erfolgreich zu bleiben, geht aber nur auf, wenn es gelingt, jede Opposition gegen diese Art „Allparteienkoalition“ in den Verdacht zu bringen, irgendwie tief unanständig zu sein. Und hier kommt die AAS ins Spiel, die an dieser Stelle ihre Funktion erfüllt.

Sie sagen, die AAS leiste der für Gesellschaft und Demokratie gefährlichen Polarisierung Vorschub. Ist sie also eine Bedrohung ?

Drieselmann: Die Amadeu-Antonio-Stiftung ist keine Bedrohung. Eine Bedrohung ist der Zustand unserer politischen Kultur. Der Versuch, die Gesellschaft in gut und böse, jetzt „links“ und „rechts“ genannt, zu teilen ist eine Ideologie, die kritische Meinungsäußerungen unter den Generalverdacht des Rechtsextremismus stellt. Das Problem gäbe es nicht, würden wir nicht das „Dagegen“ fördern, sondern das „Dafür“. Denn der Auftrag der politischen Bildung ist kein negativer, sondern ein positiver: Werben für den Rechtsstaat, für Demokratie, für Freiheit und Volkssouveränität. Also für jene grundgesetzlichen, überparteilichen Prinzipien, die entsprechend unserer Verfassung unsere Demokratie ausmachen. „Gegen Rechts“, oder auch „gegen Links“ oder was auch immer, ist etwas Politisches, aber nichts Demokratisches, denn davon steht nichts im Grundgesetz. Pflege der Demokratie bedeutet, für die freiheitlich-demokratische Grundordnung zu werben, nicht aber auf heute diese, morgen jene einzuschlagen, die der Politik nicht in den Kram passen. Daß die Amadeu-Antonio-Stiftung das als politischer Akteur tut, ist ihr gutes Recht. Daß sie dafür im Rahmen der Demokratieförderung staatlich bezuschußt und von Politik und Medien inszeniert, statt kritisch befragt wird, ist ein Skandal.

Die Stiftung nimmt allerdings für sich in Anspruch, nicht politische Gegner, sondern Feinde der Demokratie zu bekämpfen, sowie jene, die die Gesellschaft spalten – und damit die Polarisierung zu vermindern.

Drieselmann: Dann müßte sie Feindbilder ab- und nicht aufbauen. Aber jüngst erst erklärte sie, Kritiker der Corona-Maßnahmen seien Antisemiten. Ich traute meinen Augen nicht, als ich das las. Was hat das eine mit dem anderen zu tun? Corona-Kritiker, so wurde argumentiert, seien häufig Verschwörungstheoretiker. Verschwörungstheorien wiederum gehörten ins Arsenal der Antisemiten. Corona-Kritiker bedienten sich also der Mittel von Antisemiten – und folglich sind sie Antisemiten. So werden aus Bürgern, die gegen den Lockdown protestieren, weil sie vielleicht ihr Geschäft wieder öffnen oder die Kinder zur Schule schicken wollen, „Antisemiten“. Was ist das anderes als Polarisierung? Das ist nicht nur nicht förderungswürdig, das ist nicht einmal gemeinnützig.

Ist die Amadeu-Antonio-Stiftung also extremistisch, sprich verfassungsfeindlich?

Drieselmann: Jetzt sind Sie wieder bei der Stiftung als dem Problem. Der Punkt ist ein anderer, nämlich daß uns als Gesellschaft die demokratischen Tugenden verlorengegangen sind, denn wesentliche demokratische Prozesse finden nicht mehr statt. Etwa selbstverständlich auch völlig unterschiedliche Meinungen zu diskutieren, oder sich für die Freiheit des Andersmeinenden einzusetzen. Diese freiheitlichen Prinzipien wurden bei uns von ideologischen Vorstellungen verdrängt. Der andere entscheidende Vorgang ist, daß sich die Politik vom Souverän, also die Volksvertreter vom Volk gelöst haben. Aus Volksvertretern sind Volkserzieher geworden, die sich tatsächlich in Jahrzehnten weitgehend das Volk erzogen haben, das sie haben wollten.

Ist das dann noch Demokratie?

Drieselmann: Wir haben frei gewählte Parlamente, damit ist ein wesentliches Merkmal der Demokratie erfüllt. Doch demokratische Wahlen sind nicht alles. Das Bundesverfassungsgericht nennt als den Kernbestand unseres Grundgesetzes den „demokratischen Rechtsstaat“. Doch dieser Kernbestand existiert faktisch nicht mehr.

Inwiefern?

Drieselmann: Der Regierung ist es möglich, das Recht zu brechen – und zwar sanktionslos, wiederholt, dauerhaft.

Zum Beispiel?

Drieselmann: Etwa die Übernahme der Schulden anderer in der Euro-Rettung. Die Duldung zahlloser illegaler Einwanderer im Land seit 2015. Die Corona-Maßnahmen bis zur Novellierung des Infektionsschutzgesetzes im November. All das war gesetzwidrig und wurde dennoch von der Regierung getan.

Wenn dieser Kernbestand Rechtsstaat abgeschafft ist, wir ergo keine Demokratie mehr sind, sind wir dann also eine Diktatur?

Drieselmann: Die Frage ist falsch gestellt. Natürlich sind wir eine Demokratie, denn all das passiert ja nicht gegen den aktiven Willen der Bürger, die das dadurch mittragen, daß sie den verantwortlichen Politikern nicht das Vertrauen entziehen. Die Frage muß lauten: Ist Deutschland noch ein Rechtsstaat?

Und, ist es das?

Drieselmann: Der Rechtsstaat ist nach meiner Auffassung schwer beschädigt. Ein Gremium, das in keiner Verfassung aufgeführt ist – bestehend aus der Kanzlerin und den Ministerpräsidentinnen und -präsidenten – bereitet, quasi am Fließband, Verordnungen vor, die tief in die Grundrechte eingreifen, oftmals ohne Beteiligung der Landesparlamente. Teile der Exekutive, und dazu gehören ja sowohl die Bundesregierung als auch die Landesregierungen, haben sich von geltendem Recht entfernt. Selbstverständlich werden Sie auf einen Bauantrag einen gesetzeskonformen Bescheid erhalten. Aber können Sie sich noch erinnern an das willkürliche Verbot der Corona-Demonstration am 29. August durch den Berliner Innensenator? Das mußte vom Oberverwaltungsgericht Berlin aufgehoben werden. Hier hat der Rechtsstaat funktioniert. Andererseits gibt es aber auch Beispiele wie etwa das, von dem der Mitteldeutsche Rundfunk am 3. Februar berichtet hat: Die Ablehnung eines Eilantrages gegen eine Corona-Verordnung des Landes Sachsen-Anhalt begründete das dortige Landesverfassungsgericht damit, „daß die Nachteile für den Infektionsschutz schwerer wiegen, auch wenn sich die Regelung im nachhinein als verfassungswidrig erweise“. Aber genau dafür haben wir eine Verfassung: daß sie gilt! Und nicht den Zielen politischer Maßnahmen untergeordnet wird.






Jörg Drieselmann, ist seit 1992 Geschäftsführer des „Stasimuseums. Forschungs- und Gedenkstätte Normannenstraße“ im Gebäudekomplex des ehemaligen Ministeriums für Staatssicherheit in Berlin, das auch der politischen Bildung und Demokratieerziehung dient. 1955 in Erfurt geboren, wurde Drieselmann 1974 wegen einer öffentlichen Protestaktion gegen die Mauer verhaftet und zu vier Jahren verurteilt.1976 freigekauft, studierte er Germanistik und Publizistik in West-Berlin. 

Foto: Installation hetzender Wölfe des brandenburgischen Künstlers Rainer Opolka: „Die Gesellschaft in gut und böse zu teilen, heute links und rechts genannt, ist eine Ideologie ... Die Stiftung liefert, was gewünscht ist, nämlich die Markierung von Regierungskritikern als ‘rechts‘ ... Indem sie so Feindbilder definiert und aufrechterhält, vertieft sie die Polarisierung der Gesellschaft“ 

 

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