© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 10/21 / 05. März 2021

Ländersache: Niedersachsen
Keine Schimpf-Privilegien
Christian Vollradt

Einen Brief von der Ministerin für Soziales, Gesundheit und Gleichstellung zu bekommen, ist für die meisten Niedersachsen schon etwas Besonderes. 

Doch tatsächlich flatterte nicht wenigen kürzlich ein Schreiben mit Briefkopf der – am Montag aus gesundheitlichen Gründen überraschend zurückgetretenen –  Carola Reimann (SPD) höchstpersönlich ins Haus. Darin die gute Nachricht: Ãœber 80jährige, die zu Hause leben, sollen nun auch rasch gegen Corona geimpft werden. „Als Niedersächsische Gesundheitsministern liegen mir Ihre Gesundheit und Ihr Schutz besonders am Herzen“, heißt es darin gleich im zweiten Satz. Doch anders als man vermuten könnte, löste diese Nachricht nicht überall Begeisterung aus. Im Gegenteil. „Danke, daß Sie meine bereits vor über fünf Jahren verstorbene Mutter anschreiben und über Impfmöglichkeiten informieren“, empörte sich ein Betroffener über den Dilettantismus, nicht auf verläßliche Daten der Einwohnermeldeämter zurückzugreifen. 

Ähnlich erging es auch einem führenden Verwaltungsbeamten des Landes. Göttingens Polizeipräsident Uwe Lührig hatte in einem Interview mit der Bild-Zeitung berichtet, daß sein verstorbener Vater eine Einladung zum Impfen bekommen habe, während seine 87jährige Mutter noch immer darauf warten müsse. 

Auf die Frage des Journalisten, ob er den Glauben in einen funktionierenden Staat verliere, antwortete Lührig: „Den Glauben verliere ich nicht, aber das Vertrauen verliere ich schon ein klein wenig.“ Ziemlich viel Vertrauen verloren hat unterdessen Lührigs Vorgesetzter. Ãœberraschend für viele – und insbesondere den Chef der Polizei im Süden des Bundeslandes selbst –, meldete sich vergangene Woche Niedersachsens Innneminister Boris Pistorius (SPD) bei Lührig, um ihm die Versetzung in den einstweiligen Ruhestand mitzuteilen. 

Nun ist ein Polizeipräsident ein politischer Beamter, der jederzeit auch ohne Angabe von Gründen in den Ruhestand versetzt werden kann. Davon hatte Pistorius schon zu Beginn seiner Amtszeit vor acht Jahren reichlich Gebrauch gemacht. Damals war Kritikern aufgestoßen, daß in erster Linie SPD-Genossen mit den Posten versorgt wurden.

Umgekehrt trifft das kurzfristige Karriereende nun das CDU-Mitglied Lührig, dessen Amtszeit eigentlich erst im März 2023 enden sollte. Die Informationspolitik des Innenministeriums in Hannover soll nahelegen, die Entlassung erfolge aufgrund einer Panne der Polizeiinspektion Northeim, die der Polizeidirektion Göttingen – und damit Lührig – untersteht. 

Das Northeimer Jugendamt hatte die dortige Polizei mehrfach auf einen Mann hingewiesen, der im Zusammenhang mit dem Mißbrauchsskandal im nordrhein-westfälischen Lügde beschuldigt wird. Die Beamten leiteten die Hinweise an die Kollegen in Nordrhein-Westfalen weiter, ermittelten allerdings nicht selbst. Dadurch wurde der Beschuldigte erst ein Jahr später festgenommen. 

Ein Bericht über diese Panne lag dem Innenministerium schon im Dezember vor; erst im Februar legte er ihn dem Landtag vor. Der NDR erfuhr aus Regierungskreisen, daß dort Lührigs Kritik an der Impfstrategie massiven Ärger hervorgerufen hatte. Der Entlassene selbst und die Opposition hegen den Verdacht, hier liege die wahre Ursache. Auch ein CDU-Politiker zeigte sich „fassungslos“.