© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 10/21 / 05. März 2021

Eine offene Wunde, die nicht verheilt
Streitfall: Zur Kontroverse um das nie vollendetete Richard-Wagner-Nationaldenkmal in Leipzig
Paul Leonhard

Ernst und konzentriert sitzt Hans Sachs auf seinem Schemel und schwingt seinen Schusterhammer. Eine Szene aus der Wagner-Oper „Die Meistersinger von Nürnberg“. In Kalkstein gehauen hat sie der Bildhauer Emil Hipp im Auftrag der Stadt Leipzig. Zwei mal einen Meter ist der Block groß, eine halbe Tonne schwer.

Noch schwerer wiegt seine ideologische Last. Das Relief ist ein Bruchstück eines riesigen Projektes: des „Richard-Wagner-National-Denkmals“ im Richard-Wagner-Hain in Leipzig. Der erstreckt sich beiderseits des Elsterbeckens, 160 Meter lang, 90 Meter breit. Zwischen 1933 und 1942 vom Landschaftsarchitekten Gustav Allinger geschaffen, nach 1945 zum „Zentralen Kulturpark Clara Zetkin“ erweitert, im April 2011 in Richard-Wagner-Hain zurückbenannt, noch immer denkmallos und so „eine eigenartig verwundete Parkanlage, in der man sich nicht wohlfühlt“, wie es Anselm Hartinger, Direktor des Stadtgeschichtlichen Museums, in einem Interview in der Sächsischen Zeitung formuliert.

Überhaupt sei Wagner „eine offene Wunde auch in der Leipziger Musikgeschichte“ geblieben, die „wir nicht heilen können, aber wir könnten sie freilegen.“ Zu diesem Ausgrabungsversuch gehört der Kauf jenes Reliefs mit der Darstellung von Hans Sachs für 6.000 Euro und eines zweiten, mit 2,8 Tonnen noch gewaltigeren, das eine Szene aus Wagners „Walküre“ mit Siegfried und Brünnhilde zeigt, aus Rosenheimer Privatbesitz in diesem Jahr.

Seitdem herrscht Alarmstimmung im deutschen Feuilleton. Die linken Tugendwächter trauen den Leipzigern genau das zu tun zu, was Hartinger zwar für sein Museum gerade verneint hat, Hitlers Traum vom weltgrößten Wagner-Museum zumindest in Fragmenten zu vollenden. Oder wenigstens jenen Teil, den der noch demokratisch agierende Leipziger Stadtrat vor der Machtergreifung der Nationalsozialisten unter seinem, im Februar 1945 als Widerstandskämpfer hingerichteten, Oberbürgermeister Carl Friedrich Goerdeler geplant hatte.

Es ist die noch immer nicht abgeschlossene Geschichte eines zwar fertig-, aber nie aufgestellten Kunstwerkes. Und diese läßt sich aus unterschiedlichen Perspektiven erzählen: Aus der eines engagierten Bürgertums, das sich bereits in der Kaiserzeit und dann in der Weimarer Republik bemühte, einem der berühmtesten Söhne der Stadt ein würdiges Denkmal zu setzen. Dessen Ausführung dann aber ausgerechnet in die Zeit des Nationalsozialismus fiel, dessen oberster Führer wiederum ein fanatischer Wagnerianer war.

Es läßt sich aber auch aus der Sicht eines um eine Wiedereinordnung von Wagners Werk und Person in die deutsche Geschichte ringenden, in zwei sich bekämpfende Systeme geteilten Deutschlands erzählen, und aus der eines wiedervereinten Landes, dessen politische Eliten in ihrem Drang nach „Political Correctness“ kein Gespür für Zwischentöne mehr besitzen. Und es gibt auch die persönliche Geschichte eines sich um die Anerkennung seiner Arbeit betrogen fühlenden Künstlers, der sich erst gegen die Einflußnahme der Nationalsozialisten stemmen mußte und dann hilflos zusehen, wie seine Reliefs zur Deckung der Lagerkosten verramscht wurden.

Arno Breker bewarb sich um den Auftrag vergeblich

Die Ehrung Wagners war den Leipzigern früh Herzenssache. Schon 1883, im Todesjahr des Komponisten, gründete sich ein Komitee zur Errichtung eines Richard-Wagner-Denkmals, das schließlich 1904 einen Leipziger mit der Umsetzung beauftragte: den Bildhauer und Maler Max Klinger (1857–1920). Allerdings fand Klinger lange keine überzeugende Lösung, und als er 1920 starb, hinterließ er lediglich einen mit Gestalten aus Wagners Opern versehenen Marmorsockel.

1932 startete Leipzig einen erneuten Versuch. Die Stadt schrieb im deutschsprachigen Raum einen Ideenwettbewerb aus und erhielt mehr als 650 Bewerbungen. Zu denen, die sich vergeblich bewarben, gehört Arno Breker, der es mit seiner monumentalen Zeichung nicht einmal unter die ersten zehn schaffte. Eine Jury wählte den Entwurf des Bildhauers Emil Hipp (1893–1965) aus, der den Leipziger Forderungen nach einem „schlichten, aber monumentalen Denkmal“ am nächsten kam. Der Stuttgarter wollte an einem zehn mal zehn mal 4,5 Meter großen Block vier Reliefs mit den Darstellungen von Schicksal, Mythos, Erlösung und Bacchanal anbringen, die den „Wagnerschen Ideengehalt und die musikalische Ausdeutung in plastische, zeitlose Form ... bringen“.

Dann aber begeisterte sich der zum Reichskanzler ernannte NSDAP-Führer für das Vorhaben und machte es zu seinem. Adolf Hitler legte nicht nur mit Goerdeler gemeinsam am 6. März 1934 den Grundstein, sondern auch fest, daß das Denkmal um eine 430 Meter lange Mauer mit 19 integrierten Reliefs, einen Rheintöchterbrunnen und eine Siegfried-Figur zu erweitern sei. Bis zu Wagners 125. Geburtstag 1938 sollte ein „Nationaldenkmal des Deutschen Volkes“ entstehen, wirkungsmächtiger als das Völkerschlachtdenkmal.

Daraus wurde nichts. Zu viele repräsentative Bauten wurden überall errichtet, Marmor wurde knapp, und Hipp erhielt auch andere, wohl lukrativere Staatsaufträge. Und als der Künstler dann 1944 aus seinem Atelier im bayerischen Kiefersfelden Vollzug meldete, hatten die Leipziger andere Sorgen: Ihre Stadt zerfiel gerade unter dem Bombenhagel der Allierten. Und die nach 1945 an die Macht gekommenen Einheitssozialisten hatten kein Interesse an den Blöcken.

Die Idee des Wagner-Denkmals flammte erst nach der Friedlichen Revolution wieder auf. Erneut waren es Leipziger Bürger, die jetzt das bereits mit 3,6 Millionen Reichsmark komplett finanzierte Denkmal aufbauen wollten. Gerüchteweise war bekannt, daß die meisten Teile noch existierten, auch weil der bayerische Denkmalschutz der Marmor-Industrie Kiefer AG in den 1970er Jahren untersagt hatte, weitere Reliefs zu Fensterbänken zu verarbeiten.

Mit der Veröffentlichung von Grit Hartmanns Buch „Richard Wagner gepfändet. Ein Leipziger Denkmal in Dokumenten 1931–1955“ im Forum-Verlag wurde 2003 das bundesdeutsche Feuilleton auf das Kunstwerk aufmerksam, von dem außerhalb der Messestadt nur wenige Experten wußten, obgleich die Stadt Bayreuth 1976 zum 100. Jubiläum seiner Festspiele zwei Tafeln gekauft und in die Stadtmauer eingebaut hatte: die Reliefs „Hagen tötet Siegfried“ und „Der fliegende Holländer“.

Die Frankfurter Allgemeine Zeitung widmete sich mit der Schlagzeile „Wehrt euren großen Meistern“ der Geschichte des Denkmalprojektes. Fünf Jahre später krachte es richtig, als der Denkmalpfleger Wolfgang Hocquél Hipps Reliefs als „phantasievolle, allegorische Bildhauerarbeit von zeitloser Ästhetik“ würdigte und sich, wie der Richard-Wagner-Verband, für eine Aufstellung des Denkmals anläßlich von Wagners 200. Geburtstag 2013 aussprach, während der Kunsthistoriker Frank Zöllner, Professor für Kunstgeschichte an der Uni Leipzig, von einer Huldigung der „Kraft, Ewigkeit und Zuversicht der nationalsozialistischen Jugend“ sprach und die Kunstwerke als NS-Propagandakunst sowie ihren Schöpfer als „NS-Bildhauer ersten Ranges“ verdammte.

Widerstreitende Ansichten zum Bildhauer Emil Hipp

Köchelte der Streit in den folgenden Jahren auf lokaler Flamme vor sich hin, war es damit vorbei, als Anfang dieses Jahres der Kauf der beiden Reliefs bekannt wurde. Vergebens der Verweis von Museumschef Hartinger auf eine in zwei Jahren geplante Ausstellung über die Musikgeschichte der Stadt in der NS-Zeit. Pflichtschuldig räumte die für Musik zuständige Museumskuratorin Kerstin Sieblist gegenüber dem Deutschlandfunk ein, daß das Denkmal durch Hitlers Anwesenheit bei der Grundsteinlegung „einfach im Grunde seine Unschuld verloren“ habe, stellte dann aber im Streit um den Bildhauer und die Frage, ob die steinernen Reliefs, die Szenen aus Wagners Opernschaffen zeigen, „Nazikunst“ seien oder nicht, fest: „Emil Hipp gilt in dem Sinne nicht als Nazikünstler.“ Um dann wieder schnell ein Stück zurückzurudern: Andererseits sei Hipp 1936 als Professor an die Staatliche Kunsthochschule Weimar berufen worden und habe „wohl auch für Hitlers Arbeitszimmer Sachen gefertigt, und das tut seinem Werk und seinem Ruf nicht gut“. Deutlicher bezieht die Kunsthistorikerin Ursel Berger, frühere Direktorin des Georg-Kolbe-Museums, Stellung: Hipp sei „wohl der erste Lieblingsbildhauer Adolf Hitlers“ gewesen, „bevor Josef Thorak und Arno Breker in dessen Blickfeld gerieten“.

Ein ganz anderes Licht auf Hipp werfen Aussagen von Thomas Krakow vom Richard-Wagner-Verband, jenes Mannes, der sich 2008 auf die Suche nach den in ganz Deutschland verstreuten Denkmalteilen gemacht hatte. Krakow berichtete im Deutschlandfunk Kultur davon, wie die Leipziger Nationalsozialisten um Oberbürgermeister Freyberg – Goerdeler hatte 1936 wegen des Abbruchs des Mendelssohn-Bartholdy-Denkmals sein Amt niedergelegt – den Künstler dazu drängen wollten, „aus den Tauben auf seinen Reliefdarstellungen vor allem auf dem Hauptblock Adler zu machen und daß Runen eingebracht werden, natürlich auch das Hakenkreuz“. Freiberg soll über die entstehenden Reliefs so entsetzt gewesen sein, daß er Hipp beschwor: „Der Führer steckt uns alle ins KZ, wenn wir dieses Denkmal aufstellen.“ Die schließlich aus Berlin angerückte Kommission fällte dann aber ein salomonisches Urteil nach dem Motto: „Na ja, er hat zwar nicht verstanden, was wir in dieser Zeit wollen, aber Schaden richtet er auch keinen an.“

Wie wirkungsgewaltig die halbe Tonne „Hans Sachs“ ist, wollen die Museumsleute im kommenden Jahr mit der Ausstellung zur Musikstadt Leipzig in der NS-Zeit testen, in der das Relief, so Hartinger, als „Teil eines monströsen Nationalprojektes, mit dem Wagners Werk in sehr tendenziöser Weise ausgeschlachtet werden sollte“, als Raumdominante aufgestellt werden wird. Bis dahin bleibt das zweite, größere Relief vorsichtshalber 15 Kilometer außerhalb der Stadt auf dem Gelände des Kulturguts in Ermlitz.

Fotos: Wagner-Relief des Bildhauers Emil Hipp im Stadtgeschichtlichen Museum Leipzig: Das Motiv stammt aus den „Meistersingern“ und zeigt den Schuhmacher Hans Sachs mit seinem Hammer bei der Arbeit; Richard Wagner-Denkmal von Stephan Balkenhol (2013) auf dem von Max Klinger entworfenen Sockel; Adolf Hitler legt im März 1934 den Grundstein für das geplante Richard-Wagner-Nationaldenkmal in Leipzig: Unschuld verloren