© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 10/21 / 05. März 2021

Die paternalistische Kußhandkultur am Ende
Polen, das Bollwerk des Katholizismus, vor dem Ansturm der „gereiften“ Frauenbewegung
Oliver Busch

Das im vergangenen Oktober vom Obersten Verfassungsgericht abgesegnete, einem Totalverbot gleichkommende Abtreibungsrecht und die wochenlang anhaltende Protestwelle, die dagegen anrollte, signalisieren, daß in Polen eine Epoche unwiderruflich zu Ende geht. Alle tiefer blickenden Kommentatoren seien sich darin einig: Die Macht der polnischen Kirche, die seit 1970 stetig gewachsen sei, habe ihren Zenit überschritten. 

Diesem brisanten Befund kann Sergiusz Michalski in seinem Rückblick auf die jüngere Säkularisierungsgeschichte Polens nur zustimmen. Denn aktuelle Umfragen seien für die polnische Kirche „niederschmetternd“, selbst viele ihrer Anhänger aus der regierenden Partei „Recht und Gerechtigkeit“ (PiS) rückten von den geistlichen „Hierarchen“ ab. Unklar sei lediglich, ob die Autorität des Klerus einige Jahre auf hohem Niveau stagniere oder wir den westlichen Mustern folgenden Beginn eines „historischen Rückzugs“ in die Bedeutungslosigkeit erleben (Lettre International, 131/2020).

Michalski, geboren 1951 in Warschau, 1984 in die Bundesrepublik emigriert, wo er in Tübingen zum Direktor des Kunsthistorischen Instituts aufstieg, verkörpert den während des Kalten Krieges vor allem im Umfeld der Zeit-Journalistin Marion Gräfin Dönhoff reüssierenden Typus des linksliberalen Exilpolen, der sein Heimatland aus der Perspektive des Antikommunismus und Antiklerikalismus betrachtete. Davon ist nach dem Wendejahr 1989 naturgemäß nur der starke Affekt gegen die polnische Kirche geblieben. 

Obwohl Michalski sie nicht unfair benoten möchte. Immerhin habe die Kirche, einsetzend im Dezember 1970, als sie den zum Regimewechsel von Władysław Gomułka zu Edward Gierek führenden Danziger Werftarbeiterstreik unterstützte, der antikommunistischen Opposition einen wichtigen Schutzraum zu deren Entfaltung geboten. Insofern durfte sie 1989, nach dem Sturz des kommunistischen Regimes, ihren legitimen Siegespreis einfordern: in Form erheblicher Privilegien und finanzieller Zuschüsse vom Staat, in großzügigster Weise gewährter Rückgabe alter Besitztümer, der Erfüllung ihres Wunsches nach einem restriktiveren Abtreibungsgesetz (1993).

In den 1990ern sei aber bereits der aus Sicht Michalskis unheilvolle Kurs eingeschlagen worden, der 2005, im Todesjahr des „polnischen Papstes“ Johannes Paul II., zur immer engeren Allianz mit der rechtsnationalen PiS führte. Diese Weichenstellung entschied ein Führungspersonal, das „leider die Mentalität des alten kommunistischen Regimes geerbt hatte“. Neunzig Prozent der 125 polnischen Bischöfe waren oder sind bäuerlicher Herkunft und stünden daher von Haus aus im ideologischen Gegensatz zur meist liberalen städtischen Intelligenz. Wenn es nicht schon vor zehn Jahren zu heftigeren gesellschaftlichen Konflikten kam, so sei das damit zu erklären, daß generationsbedingt „die Nation als Ganzes“, inklusive des liberalen Bürgertums, ihre habituelle Dankbarkeit bewahrte gegenüber der Kirche, weil die den Nationalgedanken in zwei Jahrhunderten fremder Unterdrückung am Leben hielt.

Doch diese Dankbarkeit ist nicht zu konservieren. So warnten selbst katholische, vorsichtig kritische Soziologen schon vor Jahren vor anwachsender, durch kein nationales Identitätsangebot mehr auszugleichender religiöser Indifferenz unter Jugendlichen, aber auch in anderen Milieus. Aber solches „Rumoren im Unterholz“ wurde bis vor kurzem stets übertönt von vielen patriotisch-staatsoffiziösen Zeremonien der PiS-Regierung, in denen der Kirche eine visuell und ideologisch hervorgehobene Rolle zufiel. In Europa schien damit, nach dem Ausfall von Spanien und Irland, Polen als das einzige unerschütterliche „traditionalistische Bollwerk eines Katholizismus mehrheitlich vorkonziliarer Prägung“.

Beschmierte Kirchen und gestörte Gottesdienste

Ein Bollwerk, das nicht nur von außen belagert werde, sondern das von innen mehr als nur feine Haarrisse zeige. Denn unter kirchlichen Fittichen fand ein „rechtslastiger Radikalisierungsprozeß“ statt, der den Einfluß ultrakatholischer Splittergruppen wie Ordo Iuris erhöhte. Diese Juristenvereinigung soll via PiS maßgeblich zur jüngsten Verschärfung des Abtreibungsrechts beigetragen haben. Gehör hätten sich damit Ideologen verschafft, die in der polnischen Gesellschaft „sehr isoliert“ dastünden, so daß in deren Schlepptau die Kirche ihren Sinn für die sozialen Realitäten zu verlieren drohe. 

Nur darum konnte die polnische Bischofskonferenz die Stimmungslage so falsch einschätzen, daß sie die PiS-Initiative zur Verschärfung des Abtreibungsrechts unterstützte und damit eine „symbolische Provokation“ riskierte. Auf die Polens Gesellschaft traditionell „besonders scharf reagiert“. Zumal im Herbst erstmals in geballter Form „der gereifte Feminismus vieler junger Polinnen drastisch zum Ausbruch kam, die sowohl die Bevormundung durch die Kirche als auch die paternalistische Kußhandkultur der alten Schichten ablehnen“.

Diese teilweise gewaltsamen Proteste deutet Michalski als Resultat großflächiger soziopolitischer Veränderungen, „die der Kirche nichts Gutes verheißen“. So habe der Kampf mit dem politischen Katholizismus von Rechts und der Kirche als Ganzer mittlerweile Aktionen gezeitigt, die partiell an den anarchistischen Antiklerikalismus in Frankreich und Spanien um 1900 erinnern. Das Spektrum reiche hier von witzigen, aber auch brutal vulgären Losungen und Plakaten über Schmierereien in Kirchen bis hin zu Störungen von Gottesdiensten. Auch wenn der Großteil der Proteste in den weitaus milderen Formen der „modernen Zivilgesellschaft“ verlaufe, sollte die Kirche Polens diese vielleicht nur vorerst noch „sehr atypischen Manifestationen extremer Wut“ nicht ignorieren.


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