© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 10/21 / 05. März 2021

Der Flaneur
In der Polizeikontrolle
Paul Leonhard

Eine Freundin lädt zur Geburtstagsnachfeier ein. Und zwar jeden einzeln hintereinander, wie ich beim Eintreffen feststelle. Denn ich bin der einzige Gast. Damit erfüllt sie die Auflagen der Corona-Schutzverordnung. Ihre kleine Tochter sieht das offenbar lockerer, denn diese hat gleich vier Schulfreunde zu sich eingeladen, die sich gerade am Küchentisch über einen Berg Schnitzel mit Pommes hermachen. Später schleichen sich, zeitlich offenbar abgestimmt, Mütter in die Wohnung, um ihre Kinder abzuholen. Auch ich schiele immer wieder auf die Uhr. Schließlich hat der Ministerpräsident festgelegt, daß ich um 22 Uhr zu Hause sein muß.

Der Beamte gibt den Weg frei und mir einen Rat: „Beeilen Sie sich.“

Zwanzig vor zehn signalisiere ich meinen Aufbruch. Die Gastgeberin schaut ungläubig. Schnell laufe ich durch die dunkle Stadt in Richtung Wohnung. Dabei überquere ich eine Hauptstraße. Kaum auf dem Gehweg angelangt, leuchten zwei Scheinwerfer auf, ein Blaulicht blinkt, zwei Polizisten tauchen auf und stellen die klassische Frage: „Was haben wir denn falsch gemacht?“

Erschreckt nestle ich an meiner Mund-Nase-Bedeckung. „Die Maske sitzt nicht richtig“, entgegne ich den Beamten, mehr feststellend als fragend. Die schauen irritiert und fassen sich prüfend ins Gesicht. Ob ich den Fußgängerweg nicht gesehen hätte, fragt der Höherrangige. Ich schüttle den Kopf, der den seinen. Den habe ich doch tatsächlich um zehn Meter verfehlt.

Ich hätte es eilig, sage ich den Bundespolizisten und deute auf die Uhr. „Aber Sicherheit geht vor“, sagt der, „sehen Sie das ein?“ Ich nicke erneut. In diesem Moment beginnt die Rathausuhr zu schlagen. Erst viermal, dann in drohenderem Ton zehnmal. Er grinst zu seinem Kollegen: „Klarer Verstoß gegen die Ausgangssperre.“ Und fragt dann streng: „Wo wohnen Sie?“ Ich sage es ihm und füge kleinlaut hinzu: „Ohne die Kontrolle wäre ich pünktlich zu Hause gewesen.“ 

Der Polizist gibt den Weg frei und mir einen Rat: „Beeilen Sie sich, heute kontrolliert das örtliche Revier, und nutzen Sie künftig die Übergänge.“