© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 11/21 / 12. März 2021

Die Abdankung
Corona-Politik: Nicht der Staat, die Regierung versagt. Und Merkel ist der Schlüssel zur Misere
Michael Paulwitz

Der Nimbus der deutschen Effizienz und der einst weltweit bewunderte Ruf des deutschen Organisationstalents ist nach einem Jahr Corona-Krise gründlich ramponiert. Nahezu keine Krisenmaßnahme funktioniert so, wie zuvor versprochen; weitreichende Entscheidungen fallen auf der Grundlage willkürlich herangezogener und laufend veränderter Parameter.

Das bittere Wort vom „Staatsversagen“ steht im Raum. Tatsächlich handelt es sich aber um Regierungsversagen: die kumulierte Fehlleistung derer, denen auf Zeit die Macht übertragen wurde, die Hebel des Staates zu bedienen; die in ihrer Überforderung entweder übertreiben oder die Arbeit verweigern und damit Eigeninitiative und Verantwortung der Bürger ausbremsen, ohne die ein Staat kein demokratisches Gemeinwesen ist, sondern lediglich eine autoritäre Maschine.

Es ist Regierungsversagen, wenn im Sommer nach dem ersten „Lockdown“ erst die Erkenntnis reift, daß die Einsperr-Strategie nicht zielführend ist, nur um im Herbst einen zweiten, monatelangen Stillstand mit unabsehbarem Ende zu verordnen. Der Bundeswirtschaftsminister versagt, wenn er den dadurch mit Berufsverbot belegten und faktisch zwangsenteigneten Händlern und Gewerbetreibenden die ihnen zustehenden Entschädigungsleistungen erst großspurig unter dem falschen Etikett von „Hilfen“ verspricht, aber so bürokratisch verklausuliert und mit hohen Hürden versieht, daß sie viele Monate und Firmenpleiten später immer noch nicht angekommen sind.

Von „Digitalisierung“ wird seit Jahr und Tag geredet, aber Gesundheitsämter schicken Formulare per Fax, und manche Schulen haben nicht mal eigene E-Mail-Adressen. Das Versagen ist eingestanden, wenn die Bundesregierung für 70 Millionen Euro eine „Corona-Warn-App“ in Auftrag gibt, die sich als Reinfall erweist, und der Kanzleramtsminister, mit einer zu einem Bruchteil dieser Kosten entwickelten funktionierenden Lösung von privat konfrontiert, patzig zurückfragt, warum denn „der Staat immer alles anbieten“ müsse. Ja, warum. Man hätte längst darauf kommen können, daß es nie zum Segen gereicht, wenn der Staat im Regulierungswahn alles vorschreiben will, selbst die Sitzordnung am Wohnzimmertisch.

Regierungsversagen liegt vor, wenn eine Staatsführung sich ein Jahr lang darin sonnt, daß die in Panik versetzten Bürger selbst die absurdeste Gängelung im Namen des „Infektionsschutzes“ hinnehmen, aber die längste Zeit keine ernsthafte Vorsorge trifft, um die am stärksten gefährdeten Bevölkerungsgruppen gezielt zu schützen. Wenn die Kanzlerin nicht zu Beginn der Krise im März 2020, sondern erst ein volles Jahr später behäbig daran denkt, eine „Teststrategie“ zu entwickeln, die verläßlichere Entscheidungsdaten liefern könnte.

Und erst recht, wenn eine Regierung alle anderen Lösungsansätze beiseite wischt und die möglichst schnelle und vollständige Impfung der Bürger zum einzigen Ausweg aus der Krise erklärt – und dann doch an gerade dieser einen selbstgestellten Aufgabe scheitert, weil sie die Verantwortung für die Bestellung des Impfstoffs an eine unfähige supranationale Institution delegiert und die Organisation und Logistik im Dickicht der Bürokratie stranden läßt.

Weder Gesundheitsminister Jens Spahn noch Wirtschaftsminister Peter Altmaier erwecken den Eindruck, als würde man ihnen im realen Leben auch nur eine Abteilungsleiterposition übertragen wollen. Doch auch im restlichen Kabinett fällt niemand auf, den man als überragenden Fachmann oder glänzenden Organisator bezeichnen möchte. Im Kabinett Merkel regiert das untere Mittelmaß.

Und das nicht nur, weil der Weg in ein Ministerium im Parteienstaat in der Regel über ein Auslesesystem führt, in dem politische Überlebens­instinkte mehr zählen als Fach- und Sachkenntnisse. Die Kanzlerin ist der Schlüssel zur Misere. Angela Merkel ist eine Machttechnokratin der Mediokrität, die Posten bevorzugt mit blassen Gestalten besetzt, die ihr nicht gefährlich werden können und die sie bei Bedarf gegeneinander ausspielen kann. Ebenso umgibt sie sich konsequent mit Beratern, die sie in ihrer einmal gefaßten Meinung bestätigen. „Kuba-Syndrom“ nennt das der Infektiologe Matthias Schrappe, der wie so viele Lockdown-Kritiker vom beratenden Zugang zur Macht ausgeschlossen ist.

Das führt in eine ausweglose Bunkermentalität. Die Corona-Krise hat die Schwächen des Systems Merkel gnadenlos bloßgestellt. Merkel führt nicht, sie laviert, indem sie abwartet und am Ende die Option ergreift, die den größten medialen Applaus verspricht und am wenigsten bei noch mächtigeren Akteuren aneckt. Der eingeschlagene Weg gilt dann als „alternativlos“, der angerichtete Schaden als schicksalhaft auferlegt.

Bei Atomausstieg und Euro-„Rettung“ konnte das noch als Politik der „ruhigen Hand“ durchgehen, weil die Kollateralschäden für die Bürger nicht sofort spürbar waren. In der Migrationskrise geriet das System bereits ins Wanken; und in der Corona-Krise, in der Millionen Menschen vom Regierungshandeln hart und existentiell betroffen sind, offenbart sich hinter der empathielosen Sturheit und Selbstgefälligkeit die ganze Unfähigkeit zur unvoreingenommenen Lageanalyse und zum situationsgerechten verantwortlichen Handeln.

Die Masken- und Korruptionsskandale, die die Union derzeit erschüttern, sind Teil dieses Entzauberungsprozesses. Die Provisions-Profiteure Nüßlein und Löbel sind keine Ausrutscher, sie offenbaren den Charakter des durchgekaderten Feudalsystems, auf dem Merkels Macht beruht. Die Mentalität, die sie verinnerlicht haben, besagt: Wer sich nach oben wohlverhält, macht politische Karriere, kann auf Pfründe und Privilegien rechnen und im übrigen ungestört seinem Vorteil nachgehen. In die empörten Rufe nach Aufklärung mischt sich die Schärfe der beginnenden Diadochenkämpfe um die Neuverteilung der Macht.