© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 11/21 / 12. März 2021

Säbelrasseln zieht nicht mehr
Türkei: Anhaltende Proteste für Freiheit und kaum Hoffnung auf Besserung / Erdoğans Stern sinkt
Jürgen Liminski

Die politische Karriere des türkischen Autokraten Recep Tayyip Erdoğan begann in Istanbul. Als Oberbürgermeister der Bosporus-Metropole (1994–1998) gewann er Popularität, stieg zum Parteichef der heutigen Regierungspartei AKP, dann zum Ministerpräsidenten, schließlich zum Präsidenten der Türkei auf, um dort ein Präsidialsystem nach seinem Maß, mit diktatorischem Gepräge zu errichten. In Istanbul beginnt nun auch sein Niedergang. 

In der 18-Millionen-Stadt findet gerade ein leiser Aufstand um Brot statt. In langen Schlangen stehen Menschen vor den städtischen Bäckereien und warten auf Brot. Denn in diesen Stadt-Bäckereien kostet ein Laib Brot (250 Gramm) knapp halb soviel wie in den privaten, nämlich eine türkische Lira (11 Cents). Man nennt es Volksbrot. 

Neues Wahlgesetz soll die Rettung bringen

Gerne würde der heutige Bürgermeister, Ekrem İmamoğlu von der Oppositionspartei CHP, mehr backen und verkaufen lassen. Aber der von der AKP dominierte Stadtrat will die 142 von İmamoğlu zusätzlichen beantragten Verkaufsstellen nicht genehmigen, und die Verkaufslieferwagen, die İmamoğlu organisiert hatte, wurden vom Landwirtschaftsministerium in Ankara per Dekret verboten. So wird zwar mehr gebacken (seit November hat sich die Zahl der Laibe Volksbrot von 800.000 pro Tag auf 1,5 Millionen fast verdoppelt, und es könnte entsprechend der Nachfrage noch eine Million mehr sein), aber da die Regierung Erdoğan eine breitere Verteilung behindert, werden die Schlangen immer länger. Sie sind der neueste Indikator für den Groll auf Erdoğan. 

„Noch nie haben wir wegen Brot in der Schlange stehen müssen“, sagt İmamoğlu. Die Brotfront ist nicht die einzige im Kampf mit der Regierung. Während der ersten Welle der Covid-Pandemie im vergangenen Frühsommer rief der OB die Einwohner Istanbuls zu Spenden für die erkrankten und mittellosen Bürger in der Metropole auf. Erdoğan ließ die neuen Konten einfrieren und durch den Stadtrat die Möglichkeiten des Bürgermeisters einschränken, Kredite zu beziehen. Als İmamoğlu breitflächig Schutzmasken austeilen wollte, verhinderte die AKP das erneut, diesmal mit bürokratischen Maßnahmen. Außerdem läßt Erdoğan zwei Dutzend Finanzinspektoren die Archive des Instanbuler Stadtteils Beylikdüzü, in dem İmamoğlu vorher Bürgermeister war, durchsuchen, um Material gegen den populären Oppositionellen zu sammeln. 

Aber je stärker er seine politischen Gegner angreift, um so mehr schmilzt seine eigene Popularität – und die seiner Regierung. Selbst mit ihrem Koalitionspartner, der nationalistischen MHP, bekäme die Regierung derzeit gerade noch 43 bis 45 Prozent. Und da die MHP unter die Zehn-Prozent-Marke zu rutschen droht, bereitet die Regierung derzeit ein Gesetz vor, das die Hürde zum Einzug ins Parlament von zehn auf sieben Prozent senken soll. 

Damit käme seine Regierung, so hofft Erdoğan, zusammen mit einigen kleineren Parteien, die die Zehn-Prozent-Hürde nicht geschafft hatten, wieder auf eine Mehrheit. Die Hoffnung dürfte trügen. Die nächsten Wahlen finden erst in zwei Jahren statt, und es sieht nicht so aus, als ob der türkische Präsident trotz seiner Tricks und massiven Propaganda in den meist von der AKP gelenkten Medien bis dahin wieder an Popularität zulegen könnte. 

Vor allem die jungen Leute haben von seinen diktatorischen Methoden die Nase voll. Seit Wochen ist die renommierte Bosporus-Universität BOUN in Aufruhr. Aus ihr sind einige bekannte Persönlichkeiten hervorgegangen; mehr als zwei Drittel der besten Schüler der Türkei wollen dort studieren. Jetzt protestieren die Studenten gegen die Ernennung eines neuen Direktors, Melih Bulu, ein ehemaliges Mitglied der AKP und Vertrauter Erdoğans. An die 600 Studenten wurden bisher festgenommen, die Hälfte wieder freigelassen. Aber der Protest reißt nicht ab. Erdoğan bezeichnet die Protestierenden als „Terroristen“.

Verwirrung um Wirtschafts- und Geldpolitik

Es ist das erste Mal, daß ein Direktor vom Präsidenten ernannt wird und daß dieser nicht aus der Universität selbst kommt. Die Studenten und Professoren verlangen akademische Freiheit und dazu gehöre, daß sie ihren Präsidenten selber wählen können. Sie fürchten auch eine islamistisch geprägte Einschränkung der Lehre, so wie sie bereits an Schulen praktiziert wird. 

Byzantinische Verworrenheit indes herrscht in der Wirtschafts- und Geldpolitik. Nicht nur die Brotpreise sind um mehr als 20 Prozent gestiegen, auch Eier (100 Prozent), Sonnenblumenöl (110 Prozent) und andere Grundnahrungsmittel sowie Strom- und Gaspreise sind von der Inflationsdynamik erfaßt. All das treibt die Menschen zum Volksbrot und in die Warteschlange. Dort wird vermutlich nicht nur der Coronavirus weitergegeben, sondern auch der Mißmut über die Wirtschaftspolitik mit den steigenden Preisen und Arbeitslosenzahlen.

 Die Inflation liegt bei 15 Prozent, die Lira hat binnen eines Jahres gegenüber Dollar und Euro ein Fünftel des Wertes eingebüßt. Die Zentralbank hatte zur Stützung der Lira mehr als hundert Milliarden Dollar auf den Geldmarkt geworfen. Es ist verpufft.

 Einen Hoffnungsschimmer brachten ausländische Investoren mit 15 Milliarden Dollar, nachdem Erdoğan den Zentralbankchef und den Wirtschaftsminister gefeuert hatte. Auch die Börse in Istanbul verzeichnete einen deutlichen Aufschwung, der Internationale Währungsfonds hat die Wachstumserwartungen leicht angehoben, für dieses Jahr hofft man auf ein Anziehen des Tourismus. Aber das sind makroökonomische Daten. Der einfache Bürger hat davon nichts, und die individuellen Freiheiten bleiben ebenso eingeschränkt wie die Unabhängigkeit der Justiz. Die Türkei ist längst kein Rechtsstaat mehr, und der Hoffnungsschimmer kann sich plötzlich wieder auflösen, wenn es dem willkürlich herrschenden Präsidenten in den Machtkram paßt. 

Im Moment probiert er es mal wieder mit einer Annäherung an die Europäische Union. Er telefoniert mit dem früheren Erzfeind Emmanuel Macron, bei dem er noch vor einigen Wochen Probleme mit der mentalen Gesundheit diagnostiziert hatte, und verhandelt über die Gasfelder in der Ägäis. Säbelrasseln zieht nicht mehr.

 Gleichzeitig verspricht er seinem Volk den Griff nach den Sternen, oder zumindest eine Landung auf dem Mond im großen Jubiläumsjahr 2023, wenn die türkische Republik hundert Jahre alt wird. Raumfahrt gegen Hunger – von solchen Großmannsgesten wird niemand satt. Sicherer als die Landung des ersten Türken auf dem Mond ist, daß der Stern des ersten Türken immer schneller sinkt.