© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 11/21 / 12. März 2021

Ein typisch deutsches Wort
Ordnung des Lebens: Meditation mit Hilfe des Grimmschen Wörterbuchs
Tilmann Wiesner

Ordnung ist vielleicht das deutscheste aller deutschen Wörter. Schon die germanischen Stämme im Frühmittelalter hielten ordinunga, die Minnesänger im Hochmittelalter riefen ihre Rivalen zur ordenunge, wenn sie der „edeliu schœne frouwe reine“ (Walther von der Vogelweide) Unzüchtigkeiten vorreimten. Die echte Ordnung bildete sich jedoch erst durch Lautschwund – renommierlustige Linguisten sprechen gern von Elision – im frühneuhochdeutschen Ordenung heraus, womit ein konstitutives, erstes Prinzip aller Ordnung benannt ist: das Abstoßen von Ballast, das Aussondern von Überflüssigem. 

Bis in die Gegenwart gilt es ausländischen Beobachtern als Nationalcharakteristikum: Deutsche lieben die Ordnung im Urlaub, im Bücherregal, im Kleiderschrank, im Schlafzimmer, im Ehebett sowie auf, in oder unter dem Schreibtisch. Sie verordnen sich Betriebs-, Schul-, Haus-, Zunft-, Handwerks-, Verfahrens- und Staatsordnungen, verhängen Ordnungsstrafen und Ordnungsgelder über sich. Ordnung ist das halbe Leben, weiß ein deutsches Sprichwort, das von Scherzkeksen gern zitiert wird, um dann anzumerken, sie nähmen mit der anderen Hälfte vorlieb. Das zweite Ordnungsprinzip mutet sehr deutsch an: Alles hat seine Ordnung.

Ordnen läßt sich fast alles, was man anfassen kann: Käfer, Briefmarken, Fotos, Besteckkästen, Schraubenschlüssel und Zollstöcke. Der Entomologe klassifiziert Käfer nach Abstammung; Gigolos erinnern sich ihrer Verflossenen nach dem Geschmack der Lippen, Philatelisten sortieren ihre Sammlung nach Herkunft der Marken und thematischer Verwandtschaft; Papa hängt seine Schraubenschlüssel ordnungsgemäß nach dem Größenverhältnis an die Werkstattwand, und Oma ordnet ihre Besteckkästen, indem sie Muster zu Muster packt. Damit ist ein drittes grundsätzliches Ordnungsmoment benannt: das Ähnlichkeits- bzw. Abstammungsprinzip. Gleiches zu Gleichem.

Alle Dinge streben nach Unordnung

Ordnung entsteht nicht aus sich selbst heraus, sondern ist mit Energie- und Kraftaufwand verbunden, weil alle Dinge dieser Welt nach Unordnung streben, wie das Naturgesetz der Entropie lehrt. Ein verlassener Kleingarten sieht nach zwei Jahren aus wie ein Urwald; ein verlassenes oder abgebranntes ostelbisches Herrenhaus ist nach achtzig Jahren allenfalls in seinem überwucherten Fundament erkennbar. Ordnung ist dialektisch verschränkt mit der Unordnung; Strukturalisten würden argumentieren, daß man Ordnung nur erkennen und herstellen kann, weil sie eine Differenz zur Unordnung aufweist. Ordnung hat ein System, hat Struktur und Elemente. Sie aufrechtzuhalten – verkündet das vierte Ordnungsprinzip – macht Mühe.

Das weiß im Prinzip jeder, der als Mutter oder Vater regelmäßig Kinderzimmer betritt. Deshalb hat der Mensch als „Mängelwesen“ (Arnold Gehlen) Institutionen und Regularien ersonnen, die stabilisieren, zur Ordnung ermahnen oder gegebenenfalls gewaltsam zwingen. Der Vater Friedrichs des Großen, der Soldatenkönig Friedrich Wilhelm I., schärfte den Ordnungssinn seiner Untertanen inklusive den seines Sohnes mit dem Rohrstock. Das untergegangene Preußen galt daher bis heute als ein Ordnungsstaat allerersten Ranges, worüber dieser Vierzeiler Auskunft gibt: „Hier bei uns im Preußenland/ ist der König erster Herr;/ durch Gesetz und Ordnungsbande/ stänkert man nicht kreuz und quer.“

Diese Lektionen sind den deutschen Untertanen anscheinend unauslöschlich im kollektiven Gedächtnis eingebleut. Paul von Hindenburg, ein Preuße, dessen Name man heute von den Straßenschildern bannt, weil er als Reichspräsident in der sterbenden Weimarer Republik Adolf Hitler als Regierungschef entzaubern wollte, erklärte einst, er habe in seinem Leben nur zwei Bücher gelesen: die Bibel und das preußische Exerzierreglement – gut lutherisch die Ordnungsvorschriften für das geistliche und weltliche Regiment. Das fünfte Ordnungsprinzip mahnt daher zur Wachsamkeit. Wehret den Anfängen der Unordnung wie ein preußischer Generalfeldmarschall.

Der Ordnungssünder muß bestraft werden

Der Ordnungsgeist der Deutschen hat die Juristenzunft dazu inspiriert, ein gewaltiges Ordnungsrecht in ihren Studierstuben auszuhecken. Ordnungsstörer verhalten sich ordnungswidrig; die Ordnungsbehörden drohen ihnen unter Setzung von Ordnungsfristen Ordnungsstrafen, sogenannte Bußgelder an – Buße für Ordnungslosigkeit, die Versündigung an der Ordnung. Wer staatliche Ordnungen mißachtet, unterbricht die Ordnungskette, ist ordnungslos, hat einen Ordnungsbrief oder einen Ordnungsruf als Ordnungsmittel zu erwarten. Schlimmstenfalls tagen Gerichte und verhängen Freiheitsstrafen nach ihren jeweiligen Gerichtsordnungen. Das sechste Ordnungsprinzip lautet: Bestrafe den unordentlichen Ordnungssünder.

Das deutsche Ordnungswesen ist durchwoben von Verordnungen, mittels derer Abgeordnete oder Stadtverordnete als Ordnungssetzer den Regierungsbehörden einen Ordnungsrahmen vorgeben und sie ermächtigen, Verordnungen zu erlassen, um Menschen zu ordentlichen Menschen zu erziehen. Getragen von Ordnungsliebe und Ordnungsgeist kann die deutsche Staatsordnung als einzige Ordnungsübung verstanden werden, die ein gleichsam transzendentes Ordnungsreich stiftet. Alles in Ordnung? Das siebente Ordnungsprinzip verheißt: Ordnungen stiften Ordnungssinn. Liebe deine Ordnung wie dich selbst.

Die deutsche Ordnungsgabe geht so weit, daß sogar die deutschen Liberalen – naturgemäß keine Freunde starker staatlicher Ordnungen – auf den Begriff Ordoliberalismus verfallen sind. Danach schützt der Staat die Marktordnung, garantiert also Eigentumsrechte, Vertragsfreiheiten und spielt sich darüber hinaus zum Hüter des unternehmerischen Wettbewerbs auf, so wie ein Schiedsrichter, der über den ordnungsgemäßen Spielverlauf wacht. Das achte Ordnungsprinzip klingt paradox: Ordnung entlastet und schafft Freiheit durch Regeln für verhaltensunsichere Menschen.

Nun muß man die Deutschen einmal vor sich selbst in Schutz nehmen: Ordnung kennen auch andere Länder. Aus dem französischen Kolonialreich stammt mutmaßlich die Redewendung par ordre du mufti, die eine Autoritätsentscheidung meint, etwa eines Islamgelehrten, der eine Streitfrage mit einem rechtlichen Gutachten (einer Fatwa) beantwortet. Ähnlich absolutistisch entschied Louis XIV. („l état, c’est moi“) mit Hilfe seiner Kabinettsorder, wie denn auch Preußen im Grunde nichts anderes als die Übertragung französischer Vorbilder auf die märkische Streusandbüchse war. Schon die alten Römer hantierten mit dem Wort Ordo, das immer auch eine Reihen- und Rangfolge impliziert, Begriffe hierarchisiert, indem es sie über- und unterordnet oder priorisiert, wie es die Ordinal- beziehungsweise Ordnungszahlen zu tun pflegen. Das neunte Ordnungsprinzip verlangt von uns, Prioritäten zu setzen.

Wer Ordnung durchsetzen kann, verfügt über Macht

Wer Ordnung gegen den Willen der Unordentlichen durchsetzen kann, verfügt über Macht. Er hat ein Amt und ist ordiniert, wie Kirchen und Universitäten die Amtseinsetzung ihrer Kleriker und Professoren auf Latein sakralisieren. Noch deutlicher wird dies in der Militärsprache, in der zur Zeit der Gebrüder Grimm noch das Verb ordonanzen in der Bedeutung „Befehle erteilen“ zur Verfügung stand. Eine solche Ordungsgewalt erzeugt Ordnungshaß, die Gegengewalt, die nach dem physikalischen Wechselwirkungsprinzip „actio und reactio“ in der Menschheitsgeschichte regelmäßig auf den Plan tritt.

Die Gegner der alten Ordnung heißen Revolutionäre, weil sie diese umstürzen; ihre Gegner wiederum, die es auf die revolutionäre Neuordnung abgesehen haben, schimpfen sie deshalb Konterrevolutionäre. Diesen sich wiederholenden Prozeß „schöpferischer Zerstörung“ (Joseph Schumpeter) von alter und neuer Ordnung im Zeitverlauf nennen wir Geschichte. Sie läßt uns, zehntes Prinzip, begreifen, daß Menschen ordnende und geordnete Wesen zugleich sind – Ordnungsschöpfer in einer Schöpfungsordnung.