© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 11/21 / 12. März 2021

Sturmtrupp der Revolution
Mit dem Kronstädter Aufstand wenden sich Matrosen der Baltischen Flotte gegen die Bolschewiki
Jürgen W. Schmidt

Die strategisch bedeutsame Seefestung Kronstadt befindet sich auf der Insel Kotlin im Finnischen Meerbusen knapp zwanzig Kilometer nordwestlich von Sankt Petersburg. Die Vorgeschichte des Kronstädter Aufstandes vom März 1921 hat erhebliche Ähnlichkeit mit der Vorgeschichte der Februarrevolution von 1917 (JF 9/17). 

Infolge des fortdauernden Bürgerkrieges, der organisatorischen Unfähigkeit und politischen Willkür der neuen bolschewistischen Regierung wurde die Volksstimmung in Petrograd immer negativer. Die Lebensmittelversorgung verschlechterte sich erheblich, als Ende Januar 1921 die Versorgung mit dem Hauptnahrungsmittel Brot um ein volles Drittel gekürzt wurde und hungernde Petrograder, welche im Umland Lebensmittel eintauschten, massenhaft als Schieber verhaftet und eingekerkert wurden. Die Matrosen der Baltischen Flotte, welche sich in der Seefestung Kronstadt inklusive der dortigen Kriegsschiffe konzentrierten, sahen mit wachsendem Unwillen auf diese Entwicklung. Einerseits waren sie selbst von der Lebensmittelkrise betroffen. Anderseits betrachteten die zu anarchistischem Verhalten neigenden Matrosen der Baltischen Flotte die bolschewistische Regierung zunehmend als volksfeindliche Erscheinung. 

Es tauchten im Februar 1921, von Kronstadt ausgehend, in Petrograd Losungen auf, die eine „dritte Revolution“ verlangten und freie politische Betätigung für alle Parteien, nicht allein nur für die Bolschewiki, forderten. Insbesondere gingen derartige Forderungen von den beiden Linienschiffen „Petropawlowsk“ und „Sewastopol“, den besatzungsstärksten Kampfschiffen der Flotte, aus. Zudem empörte der neue Kommandeur der Baltischen Flotte, der Bolschewist Fjodor Raskolnikow, gemeinsam mit seiner Geliebten Larissa Reissner durch ihr Lotterleben die hungernden Matrosen. Eine revolutionäre Stimmung bahnte sich an. 

Am 26. Februar 1921 sandten die Kronstädter Matrosen eine Deputation nach Petrograd, welche den dortigen Bolschewiki unter Grigori Sinowjew ernsthaft ins Gewissen reden sollten. Man forderte insbesondere Rede- und Pressefreiheit und eine Verbesserung der Lebensmittelversorgung. Doch hatte die Deputation keinerlei Erfolg. Man plante nun heimlich seitens der Bolschewiki, die Flottenkräfte auf verschiedene Häfen zu zerstreuen, um deren zentralisiertes Handeln zu verhindern. Der für das Militärwesen zuständige Volkskommissar Leo Trotzki erkannte sogleich die sich anbahnende Gefahr und forderte ein scharfes Vorgehen gegen die Matrosen. 

Lenin forderte ein schnelles und hartes Vorgehen

Inzwischen eskalierten in Kronstadt die Ereignisse. Auf dem zentralen „Ankerplatz“ der Stadt fand am 1. März eine Massenversammlung der Matrosen statt, auf welcher der die Rolle der Bolschewiki verteidigende Kommissar der Baltischen Flotte Kusmin und der Vorsitzende des Kronstädter Sowjets Wassiljew ein schlechtes Bild abgaben und von den empörten Matrosen arretiert wurden. Anschließend wählten sie in Analogie zur Revolution von 1917 ein Fünf-Mann-Komitee zur Leitung ihres Vorgehens, wobei sich der Stab des Komitees auf dem Linienschiff „Petropawlowsk“ befand. Gemäß dem Beispiel von 1917 besetzten die Kronstädter Matrosen schnell alle wichtigen Objekte in der Stadt. Dem Matrosenkomitee unterstellte sich freiwillig den Chef der Küstenartillerie auf der Insel, ein vormaliger Zarengeneral mit Namen Koslowskij. Ebenso trat die Masse der vormalig zaristischen Offiziere in Kronstadt der Sache der aufständischen Matrosen bei. 

In Petrograd herrschte unter den bolschewistischen Machthabern Alarmstimmung, zumal nun sogar Regierungschef Lenin ein schnelles und hartes Vorgehen gegen die „Meuterer“ forderte, welche nunmehr 15.000 bis 20.000 Mann umfaßten. Immerhin sollte am 8. März in Petrograd der X. Parteitag der Bolschewiki beginnen.

Michail Tuchatschewskij, ein zum Bolschewiken mutierter vormaliger zaristischer Gardeoffizier, übernahm das Kommando über die neugeschaffene 7. Armee und versuchte am 7./8. März 1921 Kronstadt erfolglos zu stürmen. Obwohl die Festung ab dem 7. März heftig mit Artillerie beschossen wurde, scheiterte ein über das Eis des Finnischen Meerbusens vorgetragener Angriff ver-

lustreich. Daraufhin faßte Tuchatschewskij alles an Truppen zusammen, was greifbar war inklusive von 300 Delegierten des bolschewistischen Parteitages, welche als Propagandisten und Truppenführer dienen sollten. 

Zudem plante Tuchatschewskij Giftgasangriffe per Flugzeug auf die beiden als Stab der Aufständischen dienenden Linienschiffe. Ein zweiter Angriff am 17./18. März war erfolgreicher. Unter erheblichen Verlusten drang die Rote Armee in Kronstadt ein und eroberte die ganze Insel. Vorgefundene Aufständische wurden auf der Stelle füsiliert, sich ergebende Truppenteile durch Erschießen jedes zehnten Mannes dezimiert und der verbleibende Rest in Arbeitslager verschickt, wo sie bei Hunger und Kälte jämmerlich starben. Etwa 8.000 Aufständischen gelang es, über das Eis des zugefrorenen Meerbusens nach Finnland zu entkommen. Die Brutalität der Verfolgung analysierte der Historiker Gerd Koenen 2017 als von den Sowjets beabsichtigtes „Fanal des Schreckens“ des Bürgerkriegs.

Geschichtsfälschung über die Matrosen von Kronstadt 

In der sowjetischen Geschichtsschreibung wurde die Niederschlagung des Kronstädter Aufstandes zu einer bolschewistischen Heldenepopöe verklärt. Den peinlichen Umstand, daß sich ausgerechnet die „Roten Matrosen“ der Baltischen Flotte gegen die Bolschewiki erhoben, erklärte man rabulistisch damit, daß es sich ja gar nicht um die einstigen Revolutionäre von 1917 handelte, welche mittlerweile an allen Fronten des Bürgerkriegs kämpften. Vielmehr hätten sich reaktionäre Bauern, Kulakenabkömmlinge und ehemalige zaristische Offiziere in die Baltische Flotte eingeschlichen und hier einen konterrevolutionären Aufstand verursacht. Die heutige russische Geschichtsschreibung hat diese Propaganda längst verworfen. Die Regierung in Moskau unter Boris Jelzin hat am 10. Januar 1994 die Aufständischen von Kronstadt rehabilitiert und die Errichtung eines Erinnerungsdenkmals angeordnet.