© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 11/21 / 12. März 2021

Vergangenheit, die nicht vergehen will
Kümmelschnaps-Marktführer und andere Erben des deutschen Kolonialreiches
Oliver Busch

Wer eine Geschichtslektion mit dem knalligen Titel „Wie Geschäftsleute den Kolonialismus ermöglichten – und heute noch davon profitieren“ veröffentlicht, will sich im laufenden Kulturkrieg zwischen Schwarz und Weiß einfach nur austoben. Und die Hamburgerin Filemacherin und Podcasterin Olivia Samnick bringt alles mit, was eine Kombattantin dafür benötigt: Die Mittzwanzigerin ist jung, hat das angesagte Geschlecht, die dunkle Hautfarbe sowie einen Master in Journalistik im Tornister, der garantiert, daß nicht unnötiger Wissensballast ihre publizistische Gefechtstauglichkeit behindert (Katapult, 20/2021). 

So bedient denn auch ihr kritischer Rückblick auf den „deutschen Handel und Kolonialismus in Afrika“ ein intellektuell eher fliegengewichtiges Schema. Monoton spult Samnick zunächst den Erzählfaden zur „brutalen Ausbeutung“ ab. Für die Bevölkerung in Togo, Kamerun, Deutsch-Südwest- und Deutsch-Ostafrika, dem afrikanischen Kolonialbesitz des Kaiserreichs, zusammen mit 2,4 Millionen Quadratkilometern fünfmal so groß wie das „Mutterland“, habe mit dem Eintreffen der ersten Deutschen in den 1880ern eine Leidenszeit begonnen. 

In Kamerun seien Einheimische enteignet und zur Arbeit auf den Plantagen der weißen Herren gezwungen worden. In Deutsch-Südwest habe der dortige „Kolonialpionier“, der Bremer Tabakhändler Adolf Lüderitz, durch dreisten Betrug Einheimischen eine 16mal größere Landfläche abgeluchst, als diese meinten, ihm verkauft zu haben. In dieser Kolonie mündete die Unterdrückung von Aufständen zwischen 1904 und 1908 sogar im „Völkermord“. Vollständig ist das deutsche Sündenregister damit zwar längst nicht, wie Samnick mit Seitenblick auf die Verantwortlichkeit etwa für die profitable Förderung der Alkoholsucht in Kamerun durch Hamburger Schnapsexporteure andeutet.

Damit wäre eigentlich der Ausgangspunkt erreicht, um weiteres Material für den im Titel suggerierten zentralen Vorwurf ökonomischer Ausplünderung zusammenzutragen. Gleichwohl ist aus ihrer Anklage hier bereits mit der Feststellung viel Luft raus: „Der deutsche Kolonialhandel war für die Volkswirtschaft des Kaiserreichs ein Flop.“ Denn die Einfuhren aus den Kolonien machten 1913, als man hoffte, endlich die Früchte einer seit 1884 geleisteten, 646 Millionen Mark teuren, vor allem in Eisenbahnstrecken und Hafenbauten investierten „Entwicklungshilfe“ ernten zu können, nur klägliche 0,5 Prozent am Gesamtgüterimport des Reiches aus. 

Anfängliche Blütenträume platzten auch in der Gegenrichtung, lediglich 0,6 Prozent deutscher Exporte gingen in die Kolonien. Zum Vergleich: Der Anteil europäischer Nachbarn am deutschen Import betrug kurz vor dem Ausbruch des Ersten Weltkrieges 54,8 Prozent, der nord- und lateinamerikanischer Staaten 26,3 Prozent. Obwohl sich die Importquote bei Rohstoffen wie Kautschuk oder Nahrungsmitteln wie Kakao seit 1890 stetig erhöhte, änderte dies, so muß Samnick einräumen, nichts an der deprimierenden Gesamtbilanz: „Die Kolonien waren kaum profitabel.“ 

Die 2020 im Dunstkreis gewalttätiger „Black Lives Matter“-Prozessionen präsentierte, auch von „Qualitätszeitungen“ gern kolportierte Behauptung, der Reichtum der US-Amerikaner und West-Europäer gründe exklusiv auf Ausbeutung kolonialer Ressourcen, ist damit, wenigstens für das wilhelminische Deutschland, einmal mehr als plumpe, von schwarzen Lobbyisten und ihren weißen Helfershelfern zu Erpressungszwecken kreierte Fake-News entlarvt.

Eine winzige Clique gewann am Kolonialismus

Wenn jedoch die Volkswirtschaft und die deutsche Gesellschaft als Ganzes als Verlierer des kolonial-imperialistischen Abenteuers feststehen, wer sind dann die Gewinner? Samnick identifiziert eine winzige Clique von „Großreedern, Großhandelsfirmen, Plantagenunternehmern und Kolonialspekulanten“, deren Profitgier Bismarck überhaupt erst zum kolonialistischen Engagement des Reiches nötigte. Wie sich Private bereichern konnten, „obwohl das Deutsche Reich selbst kaum an den Kolonien verdiente“, lasse sich an den Firmengeschichten der Reederei Adolph Woermann in Hamburg, der gleichfalls dort ansessigen Helbing-Brennerei sowie der Kölner Schokoladenfabrik Stollwerck studieren. 

Woermann, ehedem größter Privatreeder der Welt, beherrschte ein Viertel des Kamerun-Handels und erhielt ein Bergbaumonopol in Deutsch-Südwest. Heute gleicht die in Westafrika aktive Import- und Exportfirma Woermann allerdings einem Torso des einstigen Firmen-Imperiums. Trotzdem glaubt die „Kolonialschuld“ noch im zehnten Glied witternde Samnick ernsthaft, selbst dieser bescheidene wirtschaftliche Erfolg wäre ohne das bis 1914 „angehäufte Vermögen“ nicht zustande gekommen. Das gelte, obwohl heute zum „Kümmelschnaps-Marktführer“ degradiert, genauso für die Helbing-Brennerei, die 1899 dank ihrer Exporte nach Togo und Kamerun zum größten deutschen Spirituosen-Konzern aufstieg. Und für die bis 1914 ihren Kakao aus Kamerun beziehende Firma der Gebrüder Stollwerck, die, weil sie in den 1990ern „Sarotti“ übernahm, jetzt Gewinn macht ausgerechnet mit der Vermarktung des „Sarotti-Mohren, der koloniale rassistische Klischees aufgreift“. 

Also, so moralisiert Samnick, gebe es gut hundert Jahre nach dem Untergang des deutschen Kolonialreiches weiterhin Menschen, die davon profitierten. Was sie für skandalös hält und was ihr Anlaß ist, nach mehr Tempo bei der „schleppenden Aufarbeitung der deutschen Kolonialgeschichte“ zu verlangen.