© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 12/21 / 19. März 2021

Geöffnet, nicht geimpft
Corona: Deutschlandweit kippen Richter vermehrt Corona-Einschränkungen / Experten stoppen vorerst Vakzin
Peter Möller

Am späten Montagnachmittag war das deutsche Impfchaos perfekt: Das Bundesgesundheitsministerium verkündete das vorläufige Aus für den Covid-19-Impfstoff des Pharmaunternehmens Astrazeneca. „Nach neuen Meldungen von Thrombosen der Hirnvenen im zeitlichen Zusammenhang mit der Impfung in Deutschland und Eu-

ropa hält das Paul-Ehrlich-Institut (PEI) weitere Untersuchungen für notwendig. Die Europäische Arzneimittelbehörde (EMA) wird entscheiden, ob und wie sich die neuen Erkenntnisse auf die Zulassung des Impfstoffes auswirken“, teilte das Ministerium von Jens Spahn (CDU) mit und fachte damit die Diskussion über das Krisenmanagement der Bundesregierung erneut an. 

Kritik kam unter anderem vom SPD-Gesundheitsexperten Karl Lauterbach, der von einer „unglücklichen Entscheidung“ sprach. Zwar sei das Risiko der beobachteten Thrombosen in Hirnvenen „mit großer Wahrscheinlichkeit“ auf das Vakzin zurückzuführen. Es sei aber sehr gering, vor allem im Vergleich mit der Erkrankung Covid-19, die gerade bei Älteren „sehr sehr häufig tödlich verläuft“, sagte er in der ARD.

Der vorläufige Stopp für Astrazeneca hat auch Folgen für die ab Mitte April geplanten Impfungen durch die Hausärzte, durch die sich Bund und Länder eine deutliche Beschleunigung bei den Corona-Impfungen in Deutschland erhoffen. Sollte der Impfstoff von Astrazeneca für längere Zeit oder sogar dauerhaft ausfallen, wird eine flächendeckende Versorgung der Arztpraxen mit Corona-

impfstoff schwierig. Daher wurde der diese Woche geplante Impfgipfel der Regierungschefs von Bund und Ländern über den Start der Corona-Impfungen in Arztpraxen abgesagt und verschoben. 

Unterdessen gleicht der Kampf gegen die Pandemie in Deutschland immer mehr einem Flickenteppich: Während Brandenburgs Gesundheitsministerin Ursula Nonnemacher (Grüne) am Montag Beratungen der Landesregierung darüber ankündigte, ob die bereits eingeführten Lockerungen etwa bei den Kontaktbeschränkungen oder die Öffnung von Baumärkten, Floristikgeschäften und Friseuren wieder rückgängig gemacht werden, beriet der Berliner Senat am Dienstag über weitere Lockerungen. Auch wenn Berlins Gesundheitssenatorin Dilek Kalayci (SPD) im Vorfeld angesichts der wieder deutlich steigenden Infektionszahlen die Erwartungen auf zusätzliche Erleichterungen dämpfte, sind die unterschiedlichen Signale, die die beiden benachbarten Bundesländer aussenden, symptomatisch für die derzeitige Lage im Land.

Zudem wachsen die rechtlichen Zweifel an den Maßnahmen im Kampf gegen Corona. In der vergangenen Woche sorgte ein Urteil des Oberverwaltungsgerichts des Saarlandes für Aufsehen. Die Richter kippten teilweise die Auflagen für Geschäfte, die Anfang März der Corona-Gipfel von Bund und Ländern beschlossen hatte. In einem Eilverfahren hatte die Betreiberin eines Computerladens gegen die entsprechende Vorschrift in der Corona-Verordnung des Saarlandes geklagt, da dies eine Ungleichbehandlung darstelle. Denn seit vergangener Woche können abgesehen von Lebensmittelgeschäften auch Buchhandlungen und Blumenläden wieder öffnen, wobei eine Person pro 15 Quadratmeter als infektionsschutzrechtlich unbedenklich gilt, nicht aber andere Geschäfte.

Nach Ansicht des Gerichts bestehen „erhebliche Zweifel an der Verhältnismäßigkeit der Betriebseinschränkungen.“ Damit drohe den Geschäften ein bedeutender und mit zunehmender Dauer der Einschränkungen existenzbedrohender Schaden. Die gegenwärtige Regelung verletze nach Auffassung der Richter zudem die Grundrechte der Berufsausübungsfreiheit und die Eigentumsgarantie. Die „privilegierten Geschäfte“ seien nicht unbedingt zur Sicherstellung der Versorgung der Bevölkerung erforderlich. Es sei daher nicht begründet, andere Einzelhändler aufgrund des Infektionsgeschehens strenger zu behandeln. 

„Teilweise absurde Folgen“

„Die Vielzahl der Regelungen für den Einzelhandel sorgt bei Händlern und Kunden zunehmend für Verwirrung“, sagte der Hauptgeschäftsführer des Handelsverbands Deutschland (HDE), Stefan Genth, als Reaktion auf die Entscheidung der Welt. Das Eilverfahren zeige die „teilweise absurden Folgen“ der Regelungen auf, sagte Genth und sprach von einem „Regulierungsdschungel“. Es sei nicht nachvollziehbar, warum die Geschäfte nicht in ganz Deutschland ihre Türen wieder ohne Terminvergabe öffnen könnten.

Auch in Berlin hat ein Gericht einen Teil der Corona-Maßnahmen kassiert. In einem Eil­ver­fah­ren entschied das Verwaltungsgericht Berlin in der vergangenen Woche, daß der Ausschluß ein­zel­ner Ber­li­ner Klas­sen­stu­fen vom Prä­senz­un­ter­richt im co­ro­na­be­ding­ten Wech­sel­mo­dell rechts­wid­rig ist. Die damit ver­bun­de­ne Un­gleich­be­hand­lung sei nicht ge­recht­fer­tigt. Bislang durften in Berlin nur die Grundschulklassen und die Abschlußjahrgänge am Präsensunterricht in den Schulen teilnehmen. Nach der Eilentscheidung kündigte Bildungssenatorin Sandra Scheeres (SPD) an, daß es auch für Schüler der siebten bis neunten Klassen noch vor Ostern Unterricht in der Schule geben werde. Nicht nur vor dem Hintergrund dieser Gerichtsentscheidungen wird mit Spannung die nächste Runde des Corona-Gipfels von Bund und Ländern in der kommenden Woche erwartet.