© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 12/21 / 19. März 2021

Den Drachen an die Leine legen
USA/China: Die neue Biden-Administration sucht noch ihre Strategie gegenüber Fernost / US-Denkfabriken machen es ihr dabei nicht leicht
Bruno Bandulet

Eine erfolgreiche China-Strategie? Die Administration Biden ist gerade dabei, sie auszuarbeiten. Sie wird beantworten müssen, wie der Westen auf den Aufstieg des Reichs der Mitte reagieren kann und welche politischen, wirtschaftlichen und militärischen Maßnahmen zur Wahl stehen. Für die USA stellt sich die Frage, ob sie sich von der gewohnten Position der „einzigen Weltmacht“ endgültig verabschieden müssen.

Noch belauern sich die großen Rivalen. Peking wartet ab, was sich nach dem Amtswechsel im Weißen Haus ändern könnte. Präsident Biden hat zwar dem chinesischen Staatspräsidenten Xi Jinping und dem chinesischen Volk freundlich zum Jahr des Ochsen gratuliert, er hat aber ebenfalls im Februar im Pentagon eine „China-Task Force“ eingesetzt.

 Sie soll bis zum Sommer Vorschläge für eine Strategie ausarbeiten, für die Präsident Biden in einer außenpolitischen Rede bereits die Vorgaben geliefert hat: Die Vereinigten Staaten würden sich künftig Chinas „wirtschaftlichem Mißbrauch“, seinen „aggressiven Zwangshandlungen“ und seinem „Angriff auf Menschenrechte“ entgegenstellen. Noch für März ist ein erstes Treffen zwischen US-Außenminister Antony Blinken und seinem chinesischen Kollegen angesetzt.

Atlantic-Council-Autor sieht China als Hauptfeind  

Im Prinzip sind sich beide amerikanischen Parteien darin einig, in China den Herausforderer und Gegner zu sehen. Nur soll jetzt an die Stelle der sprunghaften Politik Trumps eine langfristige Strategie treten. 

Ein beachtlicher Diskussionsbeitrag, der in Washington Aufsehen erregt hat, stammt von der Denkfabrik Atlantic Council. Er trägt den Titel: „The Larger Telegram. Toward A New American China Strategy“. Angespielt wird auf das Telegramm des amerikanischen Chefdiplomaten George F. Kennan, in dem er 1946 die „Eindämmung“ der Sowjetunion forderte. 

Als Autor zeichnet ein „Anonymous“, hinter dem sich offenbar ein hochrangiger Regierungsbeamter aus dem Außenministerium oder dem Pentagon verbirgt. Als Falke und Bellizist könnte er den Republikanern, aber auch den Demokraten nahestehen. In seinem 85seitigen Memorandum legte er größten Wert auf einen Schulterschluß beider Parteien.

Gleich zu Anfang seines „Längeren Telegramms“ erklärt der Autor China zum Feind, zur größten Herausforderung der Vereinigten Staaten im 21. Jahrhundert. Ob China unter Xi wirklich zum klassischen Marxismus-Leninismus zurückgekehrt ist, wie Anonymous behauptet, ist zu bezweifeln. Anders als die untergegangene Sowjetunion versucht Peking nicht, seine sehr spezielle Ideologie zu exportieren. Und daß die chinesische Wirtschaft in den letzten 20 Jahren um das Fünffache gewachsen ist, wäre unter orthodox sozialistischen Vorzeichen nicht möglich gewesen.

Eine andere Fehleinschätzung betrifft die inneren Machtverhältnisse der asiatischen Großmacht. So wird der amerikanischen Regierung empfohlen, sowohl zwischen der Regierung in Peking und der Elite der Kommunistischen Partei als auch zwischen der Elite und Xi zu unterscheiden. Dies verbunden mit der wohl illusionären Erwartung, Xi irgendwann stürzen zu können. 

Zwar dürften auch in Peking ebenso wie in Washington unterschiedliche Fraktionen um den richtigen Kurs ringen. Was sie aber vereint, ist die nationale Agenda, die Erinnerung an die Demütigung durch die westlichen Kolonialmächte im 19. Jahrhundert und das Streben nach einem Platz an der Sonne. Nicht zu vergessen die traumatischen Erfahrungen der Kulturrevolution, als Xis Familie verfolgt wurde und er in bitterer Armut in einer Höhle irgendwo auf dem Land hausen mußte. 

Solche und andere Schwächen des Memorandums haben die Zeitschrift Foreign Policy am 4. März zu einer scharfen Replik veranlaßt. Dem anonymen Autor wird vorgeworfen, er mißverstehe die Natur des Feindes, er übergehe die inneren Probleme Taiwans, er schätze die Rolle der Verbündeten Amerikas falsch ein, und er verkenne die Grenzen amerikanischer Möglichkeiten. „Das ist keine Strategie. Es ist eine Wunschliste“, urteilt Foreign Policy über das Memorandum. Und: „Würde Xi morgen sterben, hätten die chinesischen Führer keinen zwingenden Grund, die Politik aufzugeben, die die letzten zwei Jahrzehnte chinesischer Staatskunst definiert hat.“

Könnte es sein, daß US-Außenpolitiker generell ein Problem damit haben, sich in die Position ihrer Gegner, aber auch ihrer Bündnispartner zu versetzen? Es erstaunt, wenn „Anonymous“ es als Mission der neuen amerikanischen China-Strategie bezeichnet, daß China auf den Weg der Jahre vor 2013 zurückkehrt. 

Gemeint ist die Zeit vor Xi Jinping, als es zwar auch Differenzen gegeben habe, „die aber beherrschbar waren und keine ernsthafte Verletzung der US-geführten internationalen Ordnung darstellten“. Warum sollten die Chinesen das tun? Das Land hat inzwischen als Lokomotive der Weltwirtschaft zu viel ökonomisches und politisches Gewicht, um sich einer auf der anderen Seite des Pazifiks gelegenen Macht unterzuordnen und sich von ihr reglementieren zu lassen.

Das Memorandum erkennt, daß eine antichinesische Strategie nur Erfolg haben kann, wenn die Verbündeten in Europa und Asien mitziehen. Es blendet aber aus, daß diese eigene und andere Interessen haben könnten. 

Und Rußland, der Partner und unverzichtbare Rohstofflieferant Chinas? Die Idee, Nixons Umkehr der Allianzen von 1972 wieder zu drehen und diesmal Moskau gegen Peking zu mobilisieren, ist in Washington nicht ganz neu. Auch das Memorandum erwärmt sich dafür, erläutert aber nicht, welche Konzessionen Washington dem Kreml machen müßte. 

„Anonymous“ weiß natürlich, daß die Zeit für das Reich der Mitte arbeitet und daß sich das „Fenster der Gelegenheit“ (für Gegenmaßnahmen) geschlossen haben wird, wenn der Gegner erst einmal militärisch gleichgezogen und die amerikanische Wirtschaft überholt hat – beides wahrscheinlich bis Ende des Jahrzehnts. Kaufkraftbereinigt ist die chinesische Wirtschaftsleistung bereits größer als die amerikanische, nominal und in Dollar gerechnet noch nicht. Jedenfalls wäre der Schaden für den Welthandel, die Weltwirtschaft und indirekt auch für die Kapitalmärkte katastrophal, würden die über Jahrzehnte gewachsenen Verflechtungen gekappt oder würde  China  mit Sanktionen belegt wie beispielsweise Japan in den Jahren vor Pearl Harbor.

So weit will „Anonymous“ nicht oder noch nicht gehen. Er droht zunächst nur mit „nicht notwendigerweise militärischen“ Instrumenten aus dem „US-Werkzeugkasten“, sollte Peking weiterhin eine Begrenzung seiner Atomrüstung verweigern oder sich gegenüber US-Verbündeten einschließlich Indien kriegerisch verhalten oder die amerikanischen Satelliten im Weltraum bedrohen. 

Zugleich müsse Washington eine kurze, durchsetzbare Liste von roten Linien erstellen, bei deren Ãœberschreitung direkt und militärisch interveniert wird. Dazu zählt das Memorandum größere Aktionen mit dem Zweck, im Südchinesischen Meer weitere Inseln zu beanspruchen und zu militarisieren; jeden Angriff auf Militäranlagen oder das Territorium von Verbündeten; einen Angriff durch Nordkorea, falls China ihn nicht verhindert hat; und vor allem eine Wirtschaftsblockade oder einen militärischen Angriff gegen Taiwan oder seine Inseln, die der chinesischen Küste bis auf wenige Kilometer vorgelagert sind. 

Nur wenige kritisieren den antichinesischen Konsens 

Dort ist die Volksbefreiungsarmee allerdings klar im Vorteil, und dort könnte Xi am ehesten der Versuchung erliegen, Druck auf Taiwan aufzubauen, um sein alles überragendes Ziel der Wiedervereinigung voranzutreiben. Er würde aber vermeiden wollen, daß sich 1996 wiederholt, als US-Flugzeugträger in der Straße von Taiwan aufkreuzten, als die chinesische Küstenabwehr nicht annähernd den heutigen Stand erreicht hatte und als Peking einen demütigenden Rückzieher machen mußte.

In einem vielbeachteten Buch mit dem Titel „Destined for War“ („Bestimmt für den Krieg“) hat sich der Harvard-Professor Graham Allison bereits 2017 mit dem Risiko eines Krieges zwischen den USA und China befaßt. Sein Leser Joe Biden, damals Senator, äußerte sich begeistert. Allison hielt den Krieg nicht für unvermeidlich, aber für „sehr viel wahrscheinlicher als gegenwärtig angenommen“. 

Als Ziele der chinesischen Führung unter Xi identifizierte er die Rückkehr zur Vorherrschaft in Asien, die Kontrolle über Hongkong und Taiwan, die Rückeroberung der Einflußsphäre entlang der eigenen Grenzen und auf den angrenzenden Meeren – und den Respekt der anderen Großmächte. Chinesische Ambitionen, die mit dem hegemonialen Anspruch Amerikas frontal kollidieren.

In der Ausgabe Januar/Februar 2020 von Foreign Affairs attackierte Fareed Zakaria, ein bestens vernetzter außenpolitischer Vordenker, den antichinesischen Konsens in Washington. Er hält ihn für hochgefährlich. Er befürchtet einen tückischen Konflikt zwischen den beiden großen Volkswirtschaften, der Jahrzehnte der Instabilität mit sich bringen werde. Er nennt das heutige China im Vergleich zur Mao-Ära eine „bemerkenswert verantwortungsvolle Nation“.Zakaria plädiert für einen Ausgleich mit Peking und damit für die Akzeptanz einer neuen, multipolaren Weltordnung. 






Dr. Bruno Bandulet war Chef vom Dienst der Welt und ist Herausgeber des „Deutschland-Briefs“ (erscheint in „eigentümlich frei“).

Foto: Geschäftsmänner als chinesischer Drache und amerikanischer Weißkopfseeadler Seite an Seite: Die Zeit arbeitet für das Reich der Mitte