© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 12/21 / 19. März 2021

Ãœberwachungskapitalismus noch literarisches Neuland
Orwells Enkel
(dg)

Die Zeit der von bürgerlichen oder sozialistischen Idealen getragenen Utopien, die bestmögliche Welten im Diesseits verheißen, ist für den Germanisten Werner Jung (Universität Duisburg-Essen) vorbei. Anstelle des Traums von „vernunftbasierter Gesellschaftsorganisation“ trete im digitalen Zeitalter der Alptraum eines sich perfektionierenden „Überwachungskapitalismus“ (Konkret, 3/2021). Leider schlügen sich dessen bedrohliche Realitäten kaum in der Gegenwartsliteratur nieder, so daß Neuauflagen klassischer Dystopien aus den 1920er bis 1950er Jahren (Samjatin, Orwell, Huxley, Bradbury) diese Lücke füllen müssen. „Orwells Enkel“, wie Jungs erster Ãœberblick jüngere Verfasser rabenschwarzer Zukunftsphantasien tauft (Bielefeld 2019), hätten demgegenüber „noch kaum literarische Wirkungen von Belang generiert“. Unter den Autoren, deren Romane sich „Überwachungsnarrativen“ widmen, hebt Jung den Erstling „Jüdische Hochzeit“ (2020) von Karl Peter Schwarz hervor. Er erzählt vom Absterben der „liberalen Welt“ in einem segmentierten, unter digitaler Totalkontrolle stehenden Armenviertel im Ruhrgebiet, suggeriert jedoch mit diesem üblen Antifa-Kitsch, daß hier die „faschistische Herrschaft“ einer „Nationalen Partei NRW“ heraufziehe. Bessere Beiträge zur modernen Dystopie sieht Jung in Theresa Hannigs Romanen „Die Optimierer“ (2017) und „Die Unvollkommenen“ (2019). Letzterer imaginiert die „Bundesrepublik Europa“ im Jahr 2057: Das Ende der Geschichte ist erreicht, von Künstlicher Intelligenz so lückenlos wie „vernünftig“ überwachte „gläserne Bürger“ vegetieren in einer „Optimalwohlgesellschaft“. 


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