© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 12/21 / 19. März 2021

Das Morgenrot der Weltrevolution
Durch Kriegswirren begünstigt, konnte im März 1871 die linke Pariser Kommune die Macht an sich reißen
Karlheinz Weißmann

Jedes Jahr findet in der letzten Maiwoche auf dem Pariser Friedhof Père Lachaise eine Gedenkfeier statt. Man zieht zur Mur des Fédérés, der „Mauer der Föderierten“, an der sich die letzten Kämpfer der Commune verschanzt hatten; 147 Männer, die nach ihrer Kapitulation erschossen und in einem Massengrab nahe der Mauer verscharrt wurden. Die Zeremonie ist eine Sache der Linken. Aber seit langem kommt es zu Auseinandersetzungen mit Gruppen der Rechten, die an der Zeremonie teilnehmen wollen. Maurice Bardèche, einer der wenigen faschistischen Intellektuellen der Nachkriegszeit, ließ es sich nicht nehmen, Jahr für Jahr einen Kranz an der Mur des Fédérés niederzulegen. Die Inanspruchnahme der Commune von beiden Seiten hat ihre Ursache in deren Doppelgesichtigkeit: Einerseits war (und ist) sie für Anarchisten, Kommunisten und Sozialisten das Morgenrot der Weltrevolution, andererseits handelte es sich um den ebenso heroischen wie aussichtslosen Versuch, den Nationalfeind abzuwehren und die Hauptstadt zu verteidigen.

Tatsächlich sind die Vorgänge, die zwischen September 1870 und Mai 1871 das Geschehen in Paris und seinen Vororten bestimmten, nicht ohne den Verlauf des Deutsch-Französischen Krieges zu begreifen: die rasche Niederlage der Armee Napoleons III., der politische Zusammenbruch, die allgemeine Verwirrung und die Belagerung von Paris durch preußische und verbündete Truppen. Die Einschließung führte in der Hauptstadt zu massiven politischen Auseinandersetzungen. Zwei Lager standen sich gegenüber. 

Während die Gemäßigten eine provisorische Regierung bildeten, die Verhandlungen mit der deutschen Seite aufnahm und Vorbereitungen für die Wahl einer Nationalversammlung traf, agitierten die Radikalen die Arbeiter in den Milizen der Nationalgarde und unternahm bis zum Waffenstillstand vom 28. Januar 1871 ein halbes Dutzend Putschversuche. Ihr Ziel war vor allem, das Zusammentreten einer Konstituante zu verhindern und vollendete Tatsachen zu schaffen, um nicht nur eine neue Staatsform durchzusetzen, sondern die bestehende Gesellschaftsordnung zu zerstören. Wie in der Vergangenheit sollte Paris den Ausgangspunkt einer Revolution bilden, die nach und nach das ganze Land erfassen würde.

„Commune“ fiel auf jakobinischen Terror zurück

Zwar konnten diese Kräfte auf der Linken weder die Wahl der Nationalversammlung noch das Zustandekommen einer monarchistischen Mehrheit verhindern, die die Regierung bildete und einen Vorfrieden mit der deutschen Seite abschloß, aber sie gab ihre Sache deshalb nicht verloren. Anfang März kam es zu ersten Angriffen meuternder Gardisten. Teile der regulären Truppen gingen zu ihnen über, die Regierung war zum Rückzug nach Versailles gezwungen, ein von Nationalgardisten gebildetes „Zentralkomitee“ übernahm faktisch die Macht in Paris. 

Allerdings scheiterte schon dessen Bemühen, sich am 26. März durch Gemeinderatswahlen demokratische Legitimität zu verschaffen. Die Beteiligung war gering, die bürgerlichen Kandidaten nahmen ihre Sitze nicht ein, es blieben letztlich nur Linke verschiedener Richtung, die den Gemeinderat – die „Commune“ – als Kern einer neuen revolutionären Republik betrachteten. 

Dem entsprachen die praktischen Maßnahmen, die man ergriff, angefangen bei der Trennung von Staat und Kirche, über die gesetzliche Garantie der Gleichberechtigung von Mann und Frau, ehelichen wie nichtehelichen Kindern, das Verbot der Prostitution, die Ausweitung der Fürsorge, die Aufhebung der Pressefreiheit und Umverteilungsmaßnahmen bis hin zu Enteignungen, verbunden mit der Absicht, volkseigene Betriebe zu schaffen. Was man letztlich anstrebte, wurde aber vor allem in Symbolakten deutlich. Kommunarden stürzten die Standbilder der Könige und Kaiser, erklärten die rote zur Nationalflagge, hißten sie auf allen öffentlichen Gebäuden und führten sogar den Revolutionskalender wieder ein.

Der Akt diente dem Zweck, sich demonstrativ in die jakobinische Tradition zu stellen. Mit dem Rückgriff auf Robespierres berühmte Erklärung „Das Vaterland in Gefahr!“ und einer neuen „levée en masse“ glaubte die Commune sogar das militärische Schicksal Frankreichs wenden zu können. Aber schon die Vorstöße ihrer Truppen gegen Versailles als Sitz der Regierung scheiterten an Disziplinlosigkeit und fehlender Ausbildung. 

Als am 8. Mai 1871 die Beschießung von Paris durch reguläre Truppen begann und die rasch auf das Zentrum der Stadt vorstießen, blieb nur noch der Rückgriff auf ein anderes jakobinisches Muster: den Terror. Die Commune befahl, „verdächtige Häuser“ und öffentliche Gebäude wie den Louvre, das Palais Royal und das Rathaus in Brand zu stecken und Geiseln zu töten. Den folgenden Repressalien fielen Georges Darboy, der Erzbischof von Paris, und etwa 100 weitere Männer zum Opfer, vor allem Geistliche und Beamte.

Das war allerdings nur der kleinere Teil derer, die in den Wochen der Commune ihr Leben verloren. Moderne Schätzungen gehen von etwa 7.000 Personen aus. Die meisten von ihnen waren Kommunarden. Sie starben entweder im Kampf oder wurden nach der „Blutwoche“ vom 21. bis zum 28. Mai 1871, mit der die Erhebung endete, summarisch hingerichtet. Das Massaker an der Mur des Fédérés war jedenfalls nur ein Auftakt der Maßnahmen, mit denen die Regierung gegen die Anhänger der Commune vorging. Es ist heute üblich, das Drakonische der Bestrafung zu verurteilen und die „rote Gefahr“, die das liberale wie das konservative Europa damals in Unruhe versetzte, für ein Schreckgespenst zu halten. Was vor allem damit zu tun hat, daß die Commune erfolgreich verklärt und zu einem linken Mythos geworden ist, der die Bolschewiki ebenso inspiriert hat wie die Achtundsechziger.

„Ruhmvoller Vorbote einer neuen Gesellschaft“

Allerdings hatten erstere mehr Grund als letztere, wenn sie sich auf dieses Vorbild beriefen. Schon unmittelbar nach dem Zusammenbruch der Commune veröffentlichte Karl Marx seine Schrift „Der Bürgerkrieg in Frankreich“, auf daß die Arbeiterbewegung aus dem aktuellen Beispiel die richtigen Lehren zöge. Bemerkenswert ist daran weniger seine Behauptung, die französische Armee sei letztlich durch den Dolchstoß der eigenen Bourgeoisie militärisch gescheitert, eher die Vorstellung, die Commune müsse „ewig gefeiert werden als der ruhmvolle Vorbote einer neuen Gesellschaft“. Was Marx damit genau meinte, wurde deutlich, als er im Folgejahr mit Friedrich Engels eine Passage des „Kommunistischen Manifests“ dahingehend revidierte, daß aufgrund der Erfahrungen in Paris nicht mehr davon ausgegangen werden könne, den bürgerlichen Staatsapparat zu übernehmen und weiterlaufen zu lassen. Vielmehr müsse der vollständig zerschlagen werden. 

Zuletzt hat Engels, als er 1891 – zum zwanzigsten Jahrestag der Commune – den „Bürgerkrieg“ neu herausgab und die Abhandlung des Freundes mit einem Vorwort versah, sich voller Spott gegen die „sozialdemokratischen Philister“ gewandt, die an die Möglichkeit friedlicher Reformen glaubten. Es führe aber nichts vorbei an Revolution und gewaltsamem Umsturz und Vernichtung des Bestehenden: „Seht euch die Pariser Kommune an. Das war die Diktatur des Proletariats.“