© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 12/21 / 19. März 2021

Osteuropas Neuordnung nur unter Vorbehalt
Der Frieden von Riga im März 1921 stoppte zeitweilig sowjetische Träume von der Weltrevolution
Jürgen W. Schmidt

Im Juni 1920 träumte Lenin von der nahe bevorstehenden „Weltrevolution“, und Stalin prophezeite zur selben Zeit die unmittelbar bevorstehende Entstehung eines „Sowjetdeutschland, Sowjetpolen, Sowjetungarn und Sowjetfinnland“. Kurz vor der vernichtenden sowjetischen Niederlage in der Schlacht von Warschau (JF 34/20) hatte der sowjetische Armeebefehlshaber Michail Tuchatschewski am 2. Juli 1920 seine Kämpfer mit einem Tagesbefehl angespornt, in welchem es mit brutaler Offenheit hieß: „Im Westen entscheidet sich das Schicksal der Weltrevolution, über den Leichnam Polens führt der Weg zum allgemeinen Weltbrand (…) Auch nach Wilna-Minsk-Warschau!“ 

Doch schon im August 1920 war dieser Wunschtraum zerplatzt wie eine Seifenblase. Dank einer gut funktionierenden Funkaufklärung war die polnische Armee über die sowjetischen operativen Planungen hervorragend informiert und mittels französischer Militär- und Beraterhilfe konnte die Rote Armee vor Warschau vernichtend geschlagen werden. Acht der insgesamt 21 Divisionen der Roten Armee wurden zerschlagen und über 100.000 Rotarmisten gerieten in polnische Gefangenschaft, während sich Zehntausende Rotarmisten nach Ostpreußen retteten und hier internieren ließen. 

Da zudem die weiße Bürgerkriegsarmee unter General Pjotr Wrangel in Südrußland siegreich vorrückte, ordnete Lenin an, im Westen unverzüglich und notfalls unter ganz erheblichen Zugeständnissen Frieden mit Polen zu schließen. Der polnische militärische Führer Józef PiÅ‚sudski sah dadurch seine Chance gekommen, ein Großpolnisches Reich in Osteuropa auf Kosten der besiegten Sowjetunion zu errichten, welches mit den Polen als Kernvolk verschiedenste osteuropäische Nationalitäten in einem Vielvölkerstaat vereinen sollte. Insbesondere der frühere Kompromißvorschlag des britischen Außenministers George Lord Curzon vom 11. Juli 1920, welcher eine an der ethnischen Verteilung der Bevölkerung orientierte sowjetisch-polnische Grenzziehung vorsah, sollte stark zugunsten Polens abgeändert werden und die Großstadt Lemberg an Polen fallen.  

Die sowjetisch-polnischen Friedensgespräche begannen bereits am 21. September 1920 in der lettischen Hauptstadt Riga. Lenin ernannte den erprobten bolschewistischen Diplomaten Adolf Joffe zum Verhandlungsführer und ermächtigte ihn, zur Erreichung des Friedens notfalls große Zugeständnisse zu machen. Joffe kam entgegen, daß zum polnischen Verhandlungsführer der Nationaldemokrat StanisÅ‚aw Grabski ernannt wurde, der samt seiner Partei in politischer Opposition zum siegestrunkenen PiÅ‚sudski stand. 

Die polnischen Nationaldemokraten träumten nämlich nicht von einem großpolnischen Vielvölkerstaat (jagellionisches Staatsmodell), sondern hofften auf ein möglichst ethnisch homogenes Polen mit Gebietsansprüchen an Deutschland bis zur Oder und Neiße (piastisches Staatsmodell). Zudem wollte Grabski die eigentlich polenfreundlichen Westmächte nicht unnötig brüskieren, welche mißfällig auf die Phantasien von einem „Großpolen“ blickten. Dies ermöglichte Moskau gewisse Verhandlungsspielräume, indem man auf die Grenzziehung an der einstigen Curzon-Linie verzichtete und die künftige polnisch-sowjetische Grenze viel weiter im Osten verlaufen ließ. Doch immerhin blieben Weißrußland mit seiner Hauptstadt Minsk sowie große Teile der Ukraine sowjetisch, und Polen gelang es auch nicht wie erhofft, Litauen zu schlucken. Der gerissene Diplomat Joffe erkannte dank der gut funktionierenden sowjetischen Spionage deutlich die innere politische Zerrissenheit der polnischen Führung und nutzte das geschickt in seiner Verhandlungsführung aus. 

Sowjets planten von Beginn an Revision der Vertrags

Trotzdem mußte er den Polen zum Ausgleich für deren nicht vollständig erfüllte territoriale Wünsche einige Extras zugestehen. Die Sowjetunion verpflichtete sich nämlich, dem polnischen Staat aus den früheren zaristischen Goldreserven den auf Polen entfallenden Anteil zurückzugeben und auch die Demontagen der polnischen Industrie, welche im Laufe des Ersten Weltkriegs infolge des russischen Rückzuges nach Osten erfolgten, rückgängig zu machen beziehungsweise deren Wert zu erstatten. 

Polen war mit dem am 18. März 1921 unterzeichneten Frieden trotz aller territorialen und materiellen Zugewinne nicht zufrieden, denn der Friede bedeutete das Ende der Wunschträume von einem großpolnischen Imperium in Osteuropa. Für die Bolschewiki bedeutete der Frieden von Riga hingegen trotz aller Verluste und Zugeständnisse einen Gewinn, denn nun konnte man ungestört an der letzten noch bestehenden Kriegsfront General Wrangel besiegen und das Ãœberleben des Sowjetstaates absichern. 

Ernst war es den Sowjets mit der Dauerhaftigkeit des Friedens von Riga sowieso nicht, denn bereits im September/Oktober 1921 begannen in Berlin deutsch-sowjetische Geheimgespräche, in welchen sich die Sowjetunion deutsche militärische Hilfe bei einer künftigen militärischen Revision des Rigaer Friedens sichern wollte. Der kommende Hitler-Stalin-Pakt von 1939 deutete sich hier erstmals an.