© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 12/21 / 19. März 2021

Wie ein Ritt durch die Hölle
Ein tschechischer Historiker dokumentiert die Verbrechen an deutschen Zivilisten und Kriegsgefangenen nach dem 8. Mai 1945
Gernot Facius

Um es vorweg zu sagen: Wer dieses Buch zur Hand nimmt, braucht starke Nerven. Jiri Padevet (Jahrgang 1966), Direktor des tschechischen Verlags Academia, hat auf 736 Seiten die im FrĂŒhjahr und Sommer 1945 in den böhmischen LĂ€ndern an Deutschen verĂŒbten Verbrechen dokumentiert. Mit Sicherheit werden nicht alle TodesfĂ€lle aufgezĂ€hlt, aber die Rechercheergebnisse zeigen, wie der Autor schreibt, „daß wir in einem Raum der Gewalt lebten. In einem Raum, in dem Gewalt nicht nur zur Norm und gelĂ€ufigen Erscheinung wurde, sondern mancherorts auch zum gesuchten Zeitvertreib, aus dem nicht einmal SchĂŒler ausgeschlossen wurden.“ 

Es ist der begrĂŒĂŸenswerte Versuch eines nachdenklichen Tschechen, auf eine Gesamtdarstellung der Gewaltakte an Deutschen hinzuarbeiten. Er nennt die TĂ€ter und beschreibt die Opfer: Kriegsgefangene, die man vor den Augen von Kindern ertrĂ€nkte; uniformierte Deutsche, die in Prag mit den FĂŒĂŸen an Laternen aufgehĂ€ngt und verbrannt wurden; SS-MĂ€nner, denen ihre Peiniger mit Eisenstangen die Augen ausstachen. 

Die Opfer aus 570 Orten werden beim Namen genannt. Kurze Texte wie in einem Lexikon. Ohne lange Kommentare. Zahlreiche Landkarten und Fotos, akribische Quellenhinweise, Fußnoten und ErlĂ€uterungen geben dem Buch den Charakter eines Standardwerks. Die Auflistung von Gewaltakten beginnt mit den BrutalitĂ€ten in der Hauptstadt, es folgen die Verbrechen in den Regionen Mittelböhmen, SĂŒdböhmen, SĂŒdmĂ€hren, MĂ€hren-Schlesien und in StĂ€dten wie Pilsen, Karlsbad, Aussig, Reichenberg, KöniggrĂ€tz, Pardubitz, OlmĂŒtz und Zlin. In Internierungslagern kam es wiederholt zu Mißhandlungen und Vergewaltigungen deutscher Frauen, sowohl durch Angehörige der Roten Armee als auch durch örtliche Bewaffnete. 

Bei der LektĂŒre werde klar, daß die vom nationalsozialistischen Deutschen Reich in Gang gesetzte Gewaltmaschinerie am 8. Mai 1945 nicht endete, sondern sich weiter fortsetzte, wenn auch mit anderen Akteuren in der TĂ€ter- beziehungsweise Opferrolle, resĂŒmiert der Autor. Die LektĂŒre gleiche einem Ritt durch die Hölle, hat ein Rezensent geschrieben. Ihm wird man nicht widersprechen können. Das Thema war lange tabu, aber inzwischen lĂ€ĂŸt es sich nicht mehr unterdrĂŒcken. Jiri Padevit verzichtet allerdings weitgehend darauf, die Greuel zu kommentieren oder zu bewerten, sie sprechen ohnehin fĂŒr sich. Immerhin wird aber schon in der Einleitung versucht, einiges von dem geradezurĂŒcken, was in der Geschichtsschreibung bis heute verzerrt dargestellt wird.

Sadisten, Asoziale und Kollaborateure als TĂ€ter

Die „wilde Vertreibung“ bald nach Kriegsende (im Buch leider verharmlosend als „Abschiebung“ bezeichnet) war „wild“ nur in der Form, nicht jedoch im Grad der Organisation. Denn an ihr beteiligten sich nachweislich „Revolutionsgarden“, die militĂ€rischem Kommando unterstanden, dazu bewaffnete Gruppen, die ihre Befehle von ganz oben erhielten. Damit wird ein weiteres Mal der Prager Lesart von „spontanen“ Aktionen widersprochen. Und es werden Morde und Raubmorde, die als „nationale SĂ€uberung“ getarnt wurden, erwĂ€hnt. „Dabei handelte es sich um ausgesprochen kriminelle Delikte.“ 

Einen großen Anteil an der verĂŒbten Gewalt hatte, wie aus Archivquellen zitiert wird, offensichtlich der Prager Abwehrnachrichtendienst. „Bei vielen ZwischenfĂ€llen stellten sich Soldaten der Roten Armee an die Seite der gequĂ€lten Deutschen, bei anderen wiederum schlossen sie sich den TĂ€tern an.“ Und auch dieses Faktum wird nicht unterschlagen: Rache trugen in die böhmischen StĂ€dte und Dörfer auch lokale bewaffnete Individuen hinein, oft selbst mit einer kollaboratorischen Vergangenheit aus dem Protektorat. 

Unter diesen „RĂ€chern“, die Rache oft als Gerechtigkeit verstanden, tauchten auch ausgesprochene Sadisten und deviante Personen auf, die Gefallen an Gewalt und Erniedrigung fanden. Eine ganze Reihe von ihnen wurde noch im Sommer 1945 verhaftet. Aber auch das gehört zur Nachkriegsgeschichte: Bis 1948 endete die Mehrheit dieser FĂ€lle mit der Entlassung der StraftĂ€ter, „manchmal auch in die Dienste der Staatssicherheit“. 

Daß daran heute erinnert wird, und zwar von einem Autor tschechischer Zunge, wird in Prag nicht ĂŒberall gern gesehen werden, ist doch manches historische Detail aus dem politischen Diskurs ausgeschlossen worden. Eine kritische Auseinandersetzung mit dem Schicksal der Deutschen in Böhmen, MĂ€hren und Sudeten-Schlesien kommt ungeachtet der als historischer Meilenstein beschriebenen Deutsch-Tschechischen ErklĂ€rung vom Januar 1997 erst langsam in Gang. Zwar vermitteln einige Museen und Ausstellungen ein differenziertes Bild von den ehemaligen MitbĂŒrgern, und es wird in manchen Kommunen das Leid der Vertriebenen gewĂŒrdigt. Noch immer ist allerdings in einflußreichen Zirkeln von einer „gerechten Strafe“ fĂŒr die Sudetendeutschen die Rede. Ihnen wird die Schuld am Zerfall der ersten Tschechoslowakischen Republik nach MĂŒnchen 1938 angelastet. Die permanenten Prager VerstĂ¶ĂŸe gegen das Selbstbestimmungsrecht, die MĂŒnchen ĂŒberhaupt möglich gemacht haben, werden dabei ignoriert.

Über die VorgĂ€nge 1945/46 wurde nicht gesprochen 

Jiri Padevets von angenehmer ZurĂŒckhaltung geprĂ€gter Zugang zum Thema Vertreibung entspreche dem Artikel 1 des deutschen Grundgesetzes von der Unantastbarkeit der WĂŒrde des Menschen, lobte Wolfgang Schwarz vom Adalbert Stifter-Verein in seinem Vorwort. Padevet stelle die Fakten der Nachkriegsgewalt an sudetendeutschen Zivilisten in den Mittelpunkt, spare aber trotz vorangegangener NS-Verbrechen auch heiklere FĂ€lle, zum Beispiel die Folterungen und Morde an SS-Angehörigen, nicht aus. 

FĂŒr den Verleger JĂŒrgen Tschirner war dieses Kapitel der Vertreibung lange „ein weißer Fleck auf der Bildungslandkarte“ – bis seine Frau im Sommer 2017 in Aussig die tschechische Buchversion  („Krave leto 1945“) entdeckte und nach Leipzig brachte. Weder im privaten Umfeld des Paares noch in Schule (Leitmeritz/Leipzig) oder UniversitĂ€t (Prag) sei ĂŒber die VorgĂ€nge 1945/46 gesprochen worden: „aus Unwissenheit, Desinteresse oder dem GefĂŒhl, als rĂŒckwĂ€rtsgewandt oder revanchistisch gebrandmarkt zu werden“. WĂ€hrend der LektĂŒre wuchs dann die Idee, das Geschehen endlich aus dem Keller der öffentlichen Wahrnehmung zu holen und mit einer Übersetzung einer Leserschaft in Deutschland, Österreich und der Schweiz zugĂ€nglich zu machen. Ein konstruktiver Beitrag zu einer Kultur des Erinnerns. 

Jiri Padevet: Blutiger Sommer 1945 – Nachkriegsgewalt in den böhmischen LĂ€ndern. Verlag Tschirner & Kosova, Leipzig 2020, gebunden, 736 Seiten, Abbildungen, 49,80 Euro