© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 13/21 / 26. März 2021

Der deutsche Patient
Umgang mit Corona: Die geistige Quarantäne begann schon vor der Pandemie
Fabian Schmidt-Ahmad

Die deutsche Impfstoffproduktion lief Tag und Nacht auf Hochtouren, um das gefährliche Virus aus China aufzuhalten. Woche für Woche konnten so 250.000 Bundesbürger geimpft werden – in von der Bundeswehr aus dem Boden gestampften Impfzentren, aber auch Hausärzte erhielten rasch Impfdosen gegen das neuartige Influenza-Virus. Dennoch starben mehrere zehntausend Deutsche im Winter 1969/70 an der „Hongkong-Grippe“. So genau weiß man es nicht, denn damals interessierte das kaum einen. Das Leben ging weiter.

Ein halbes Jahrhundert später ist alles anders. Das Coronavirus ist der eine Superstar, der alles möglich macht. Die Notstandsgesetze für den Verteidigungsfall wurden damals nach Jahrzehnten parlamentarischen Ringens verabschiedet, begleitet von heftigen Protesten. Selbst deren Befürworter, der spätere Bundeskanzler Willy Brandt (SPD), drohte im Parlament: „Wer einmal mit dem Notstand spielen sollte, um die Freiheit einzuschränken, wird meine Freunde und mich auf den Barrikaden zur Verteidigung der Demokratie finden, und dies ist ganz wörtlich gemeint.“

Heute sitzt ein mut- und kraftloses Volk zu Hause und schaut seiner dilettierenden Regierung zu, mit welchen neuen Verordnungen ihre Freiheitsrechte abgeräumt werden. Auf den Luxus, diese rational vor der Öffentlichkeit zu begründen, verzichtet jene schon lange. Auch nach einem Jahr kann die Bundesregierung keine wissenschaftliche Untersuchung vorlegen, die einen nennenswerten Effekt des Lockdowns auf das Infektionsgeschehen belegt. Statt dessen deuten gewichtige Untersuchungen auf das Gegenteil hin.

Schon ein kurzer Blick in die Statistik der Corona-Toten zeigt eine Kurve von März bis Mai mit einem Maximum im April und dann wieder eine zweite Kurve von November bis März 2021 mit einem Maximum im Januar. Eine fast deckungsgleiche Kurve sehen wir für Schweden – das gar keinen Lockdown verordnet hatte! Könnte es sein, daß der schwerste Eingriff in der Geschichte der Bundesrepublik inklusive der Ruinierung der deutschen Wirtschaft, der irreparablen Schädigung des Grundgesetzes, ein sinnloses Unterfangen ist? Doch wer hier kritisiert, nimmt nicht etwa demokratische Rechte wahr, sondern wird bestenfalls als sorgloser Gefährder von Menschenleben markiert.

Vielleicht sollten diese aber eher im Kanzleramt gesucht werden. Zur Erinnerung: Der Lockdown wurde ursprünglich damit begründet, das Gesundheitswesen nicht zu überlasten und Zeit zur Entwicklung und massenhaften Verbreitung eines Impfstoffs gegen Covid-19 zu gewinnen. Was immer man von diesem Plan hält, andere Staaten setzen ihn um. Die USA werden in diesen Tagen die Marke von 100 Millionen verabreichten Impfdosen überschreiten, China liegt derzeit bei siebzig Millionen, Indien bei vierzig Millionen und Großbritannien bei 27 Millionen Impfdosen – und täglich kommen mehrere Millionen dazu.

Deutschland liegt mit derzeit 6,8 Millionen Impfdosen immerhin noch vor Bangladesch mit 4,8 Millionen Dosen. Angerichtet hat das Angela Merkel, die gegen einen „Impfstoff-Nationalismus“ wetterte und einen eigenständigen deutschen Impfplan sabotierte. Der Kampf gegen eine „epidemische Lage von nationaler Tragweite“ – womit die Suspendierung von Freiheitsrechten begründet wird – mag zwar offizielles Ziel der Bundesregierung sein, wichtiger ist ihr aber offenkundig der Kampf gegen einen deutschen „Nationalismus“ – heutzutage längst Chiffre für den Willen zur nationalen Selbsterhaltung.

Vor diesem Willen muß sich unsere Bundesregierung nicht fürchten, es gibt ihn nicht mehr. Vor einem halben Jahrhundert war das anders. „Deutsche – Wir können stolz sein auf unser Land“ war noch Wahlkampfmotto des Bundeskanzlers Willy Brandt. Stolz sein aber heißt, auch ein Bewußtsein zu haben, daß es etwas gibt, in dem man weiterlebt. Eltern opfern vieles für ihre Kinder, weil diese ihre Zukunft sind und nicht der eigene, nun einmal vergängliche Leib. Und die Schulen damals waren voll von Kindern.

Freiheit verlangt Opfer, das war vor einem halben Jahrhundert eine fast ebenso banale Feststellung wie die, daß das Leben des einzelnen endlich ist. Doch dieser Glaube an die Zukunft fehlt uns. Lange vor der Ausgangsbeschränkung hat sich die Mehrheit der Deutschen innerlich in Quarantäne begeben. Solche Menschen sind passiv geworden. Ein Großteil protestiert nicht mal mehr, wenn Gesetze durch Willkürakte ersetzt werden. Es wird alles hingenommen und noch nicht einmal gelacht, wenn das Regierungskabinett eher einem Kabarett gleicht („im großen und ganzen alles richtig gemacht“). Kurzum: Ein solcher Mensch wird nach allem greifen, was ihm verspricht, den Tod etwas länger hinauszuzögern. Das Zahlengeklimper von Inzidenzwert und Co., von Test- oder Impfstraßen, die geöffnet und wieder geschlossen werden, das alles interessiert ihn nicht wirklich. Nur noch ein Tag und dann ein weiterer. Deutschland ist vielerorts ein Sterbehospiz geworden, das keine Schulen, keinen Handel, keinen Plan für die Zukunft braucht. Und eigentlich auch keine Regierung.

Es ist das große, historische Glück für Angela Merkel, die Macht in einer Zeit auszuüben, wo eh alles egal ist. So können wir uns eine Bundesregierung leisten, die von Fehltritt zu Fehltritt stolpert, von denen jeder einzelne zu normalen Zeiten zwingend einen Rücktritt erfordert hätte. Covid-19 tifft nicht auf das Volk von vor einem halben Jahrhundert. Falls man seine Ankunft überhaupt beachtet hätte, wäre das Virus zweifelsohne effektiver bekämpft worden. Denn die Deutschen von damals glaubten noch an sich, an ihre Leistungsfähigkeit und an ihre Zukunft.