© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 13/21 / 26. März 2021

„Schlimmer als ein Schuldenerlaß“
Corona hat die Schuldenkrise in der EU eskalieren lassen. Eine Initiative fordert, die Schuldner von den Lasten zu befreien. „Mit Zerobonds wäre das machbar“, meint der Ökonom Andreas Beck. „Es wäre unverantwortlich“, kontert Olivier Kessler, Chef des ‘Liberalen Instituts‘
Moritz Schwarz

Herr Kessler, Schuldenerlasse funktionieren, wie das Jahr 1953 zeigt, als Deutschland 2/3 seiner Schulden gestundet wurden. Warum lehnen Sie den Plan ab, diese Chance auch den EU-Staaten zu geben?

Olivier Kessler: Erstens: Entscheidend für das sogenannte Wirtschaftswunder war kein Schuldenschnitt, sondern die wirtschaftsliberale Politik prägender Figuren wie Ludwig Erhard und Wilhelm Röpke. Die Forschung zeigt, daß es uns um so besser geht, je weniger die Produktivkräfte Überregulierung und fiskalischer Gier ausgesetzt sind. So gesehen war das deutsche „Wirtschaftswunder“ also kein Wunder, sondern vorhersehbar. Zweitens: Zwischen Staatsschuldenerlaß und längerfristigem Fortschritt gibt es gar keinen Kausalzusammenhang.

Andreas Beck: Ich möchte erst mal Herrn Schwarz darauf hinweisen, daß die Eingangsfrage falsch gestellt ist: Es gibt keinen solchen Plan. Richtig ist, daß einige Ökonomen einen Schuldenschnitt vorgeschlagen haben – wie in den letzten Jahrzehnten auch schon. Die Idee, Staatsschulden zu streichen, gab es schon bei den alten Griechen.

Aber wären die Folgen eines Schuldenschnitts nicht unkalkulierbar? Der Immobilienmarkt etwa, in den viele geflüchtet sind, würde wohl zusammenbrechen.

Beck: Zum einen ist völlig unklar, ob irgend etwas „zusammenbrechen“ würde. Zum anderen wäre es für die EZB naheliegender, die in ihrer Bilanz angehäuften Staatsanleihen in sogenannte Zerobonds mit sehr langen Laufzeiten umzuwandeln, was bilanzneutral machbar wäre. Diese Staatsanleihen gehören heute schon den Zentralbanken – und die Zentralbanken gehören den Staaten.  

Herr Kessler, ist Dr. Becks Vorschlag nicht nur eine andere Form von Schuldenerlaß? 

Kessler: Doch, natürlich. Auch wenn Zerobonds bedeuten, daß die Schuld nicht offiziell, sondern nur de facto gestrichen wird. Denn das sind Anleihen, die frei von laufenden Zinsen sind, das heißt diese werden erst am Ende der Laufzeit der Bonds fällig. Wobei „sehr lange Laufzeiten“, wie Dr. Beck sagt, durch ewiges Aufschieben möglicherweise „nie“ bedeutet. Die Schulden sind dann zwar nicht nominell erlassen, aber durch die Umdeklarierung in Zerobonds, deren Zinsen und Rückzahlung vielleicht erst am Sankt-Nimmerleinstag fällig sind, im Grunde aufgehoben. Das aber kann in Rechtsstaaten nicht angehen, weil damit Verträge einseitig zu Lasten eines Vertragspartners geändert werden und der Vertragsbrecher damit einfach durchkommt. Und schon gar nicht, wenn es sich bei letzterem um den Staat handelt. Jene Institution also, die Verträge durchsetzen soll!

Beck: In jedem Rechtsstaat der Welt ist es üblich, daß Schulden restrukturiert werden können. Jeder Gläubiger weiß das, und darum gibt es Risikoprämien. Das Problem ist ein anderes: Eigentlich ist es unzulässig, daß Zentralbanken Staatsanleihen des eigenen Staates aufkaufen. Im Prinzip ist das schon eine Form von Schuldenschnitt und ein Angriff auf die Unabhängigkeit der Zentralbank.

Herr Kessler, zwingt uns nicht schlicht Corona, Dr. Becks Weg zu folgen, weil seit der Covid-Krise die Staatsschulden in Europa doch regelrecht explodieren? 

Kessler: Daß die Schäden, die von der Politik durch die massiven Eingriffe in die Wirtschafts- und Versammlungsfreiheit angerichtet wurden, nun durch höhere Staatsschulden zugeschüttet werden sollen, ist bedauerlich. Aber welche unverantwortlichen Schäden würde erst ein Erlaß anrichten. Erstens enteignet er alle, die dem Staat Geld anvertraut haben – eine Verletzung des Menschenrechts auf Eigentum! Zweitens hätte er volkswirtschaftlich massive Folgen, zumal die Gläubiger des Staates oft institutionelle Anleger wie Pensionskassen, Banken und Versicherungen sind, weshalb wir alle davon betroffen wären: In den Bilanzen diverser systemrelevanter Einrichtungen würden sich große Löcher öffnen, was in eine gewaltige Krise ausarten könnte. Drittens setzt ein Erlaß völlig falsche Anreize, da er der Politik zu verstehen gäbe: Ihr könnt euch bis zum Gehtnichtmehr verschulden, es hat für euch keine Konsequenzen! Macht das auch in Zukunft ruhig wieder so und „haut“ auf unsere und auf Kosten unserer Kinder und Enkelkinder richtig „rein“!

Herr Dr. Beck, hat Herr Kessler da nicht recht? Von Schulden zu entlasten, ob per Schnitt oder Zerobonds, bedeutet doch, Schuldenmachen zu belohnen. Und das ist doch die „Ursünde“ schlechthin, da es jede Haushaltsdisziplin in Zukunft untergräbt.

Beck: Wenn, wie derzeit, die Zinsen bei null sind, dann gibt es keinen Unterschied mehr zwischen Schulden und Guthaben: Das ist die eigentliche „Ursünde“. Und natürlich ist das dann unverantwortlich und setzt „falsche Anreize“. In diesem Sinne haben wir mit der Nullzinspolitik also sogar noch etwas Schlimmeres als einen Schuldenschnitt. Übrigens gebe ich zu bedenken, daß die EZB hier analog der amerikanischen FED, der Bank of England und der Bank of Japan agiert. Das ist also ein grundsätzliches Problem der aktuellen Politik der Zentralbanken, nicht etwa ein spezifisches Problem des Euro. Außerdem, bei der Zerobond-Lösung wären externe Investoren, wie die von Herrn Kessler angeführten Pensionskassen, Versicherungen etc., keineswegs betroffen. Und auch eine „Verletzung der Menschenrechte“ sehe ich dabei nicht. Denn Privateigentum ist ein rechtliches Konstrukt, das Rechtssicherheit voraussetzt – und ohne funktionierenden Staat keine Rechtssicherheit. Gerade vermögende Bürger haben daher ein Interesse daran, daß der Staat handlungsfähig bleibt. Es ist eben immer ein Geben und Nehmen.     

Kessler: Ich bin mit Dr. Beck insofern einverstanden, als die aktuelle Geldpolitik der wichtigen Zentralbanken ein mindestens ebenso großes Problem ist. Wir dürfen jedoch nicht vergessen, daß Zentralbanken politisch eingeführte Institutionen sind, die meist im Interesse der politischen Machthaber handeln. Warum verordnen Notenbanken also Null- und Negativzinsen? Ein wichtiger Grund dafür ist sicher die exorbitante Staatsverschuldung: Man möchte dem Staat die wahren Kosten der Verschuldung vom Leib halten und druckt daher Geld, als gäbe es kein Morgen. Die Kosten dieser verantwortungslosen Geldpolitik tragen letztlich die Sparer, die heimlich enteignet werden. Ja, Schutz des Privateigentums setzt, wie die Durchsetzung jedes Menschenrechts, einen funktionierenden Rechtsstaat voraus. Doch ein Staat, der seine Bevölkerung ausnimmt, hat mit einem das  Eigentum schützenden Rechtsstaat nichts mehr zu tun. Es ist also höchste Zeit, daß der Staat sich wieder auf seine Grundfunktionen besinnt, statt sich zu übernehmen und im Übermaß zu verschulden.

Aber Herr Kessler, ist es nicht eine Lebenslüge, weiter auf Rückzahlung der Schulden zu setzen? Heute gibt es doch, anders als 1953, gar nicht mehr genug Wachstum, um den Schuldenberg jemals abzutragen.

Kessler: Bereits Adam Smith, Begründer der Nationalökonomie, warnte: „Haben Staatsschulden eine übermäßige Höhe erreicht, ist … kaum ein Beispiel vorhanden, daß sie ehrlich und voll bezahlt worden wären.“ Die Geschichte ist voller  Fälle, die zeigen, daß Volkswirtschaften an zu hohen Schulden zugrunde gehen. Allein seit 1980 gab es weltweit 90 Insolvenzen in 73 Staaten. Die Lösung ist nicht, Schulden zu streichen und naiv zu hoffen, der Staat werde sich bessern. Die nachhaltige Lösung ist vielmehr, dem Staat zu untersagen, sich zu verschulden und höchstens so viel auszugeben, wie man Steuern einnimmt. Doch zurück zu Ihrer Frage: Schulden kann man ja nicht nur durch Wachstum, sondern auch durch Verzicht finanzieren. Je mehr der Staat sich ausbreitet, je höher er die Steuern ansetzt, je unverschämter er alle Lebensbereiche der Bürger reglementiert, desto mehr bremst er das Wachstum aus. Binden wir ihn jedoch zurück, sinken nicht nur seine Verbindlichkeiten, er nähme, infolge des Aufblühens der Wirtschaft, auch mehr Steuern ein.

Beck: Natürlich zahlen Staaten ihre Schulden nicht zurück, das behauptet ja auch niemand. Insofern gibt es also die „Lebenslüge“, über die Sie beide hier sprechen, gar nicht.

Aber stellen sich die Bürger das nicht so vor?

Beck: Mag sein, doch haben Staaten im Gegensatz zu Menschen keine endliche Ertragsphase. Es hat folglich gar keinen Sinn, zu einem festen Zeitpunkt einen Schuldenstand von null anzustreben. Vielmehr besteht das Versprechen der Staaten darin, ihre Schulden zu bedienen, Zins- und Tilgungsbelastung muß also langfristig tragfähig sein. Bei den gegenwärtigen Nullzinsen ist das keine große Kunst. Insofern ist auch hier wieder die Nullzinspolitik die „Ursünde“, da sie den Regierungen haushaltspolitische Narrenfreiheit ermöglicht, was langfristig sehr schädlich sein kann.  

Aber wäre ein Erlaß der Schulden, oder ihre Umwandlung per Zerobonds, nicht de facto die Vollendung einer Schuldenunion, die bei Einführung des Euro verboten war. Wäre das nicht Riesenbetrug am Souverän, also den Bürgern und Völkern?

Beck: Zur Erinnerung, die 2020 beschlossenen Transferzahlungen und gemeinsamen Schulden wurden nicht von EU-Institutionen beschlossen – sondern einstimmig von den souveränen Mitgliedsstaaten. Verstehen Sie mich nicht falsch, ich halte das für nicht richtig und für langfristig sehr schädlich. Aber benennt man, wie in Ihrer Frage, die Verantwortlichen nicht klar und deutlich, dann kommt man in der Diskussion auch nicht weiter: Diese Entscheidungen waren kein Bruch der EU-Verträge, da sie nicht von der EU getroffen wurden, sondern sind ein Bruch von Wahlversprechen der Regierungen der Mitgliedsstaaten. 

Apropos Versprechen: Dem von der Ökonomen-Initiative geforderten Schuldenerlaß, soll ein Versprechen der Staaten, zu investieren, gegenüberstehen. Doch wenn wir eines aus der Euro-Krise gelernt haben, dann daß Versprechen und Verträge in Europa nichts wert sind. Wäre das Ergebnis nicht, daß wohl viele Staaten auch dieses Versprechen brechen würden?

Beck: Ich finde, als Journalist sollten Sie die Fragen neutraler stellen. Ob Verträge heute mehr oder weniger wert sind als vor der Euro-Einführung, kann man diskutieren. Aber so klar, wie Sie in Ihrer Frage unterstellen, ist die Antwort auf jeden Fall nicht. Zudem: In der Demokratie sind wir selbst der Staat. Ich bin daher überrascht, daß Wirtschafts- und Finanzpolitik bei den Wählern heute kaum noch eine Rolle spielen. Solange sich das nicht ändert, konzentriert sich die Politik vor allem auf das Geldverteilen.  

Herr Kessler, wenn nicht durch Schuldenerlaß oder Zerobonds, wie sonst bitte wollen Sie denn die völlig verfahrene Schuldensituation in Europa lösen? 

Kessler: Statt die Gläubiger zu enteignen, mit all den von mir genannten Nachteilen, sollten wir den Staat durch liberale Reformen entschlacken: Indem etwa Marktwirtschaft und Zivilgesellschaft die vom Wohlfahrtsstaat okkupierten Funktionen wieder übernehmen, könnte enorm gespart werden. Nebeneffekt: Konsumenten profitieren tendenziell von tieferen Preisen und besserer Qualität der ausgelagerten Produkte und Dienstleistungen, da Private im Gegensatz zum Staat vermeiden, Verluste zu produzieren und Ressourcen zu verschwenden. Zudem könnte der Staat seine umfangreiche Infrastruktur verkaufen, was auf einen Schlag enorme Einnahmen generiert, die die sofortige Rückzahlung aller Staatsschulden sowie enorme Steuersenkungen für alle ermöglichen würden.

Was halten Sie davon, Herr Dr. Beck?

Beck: Im Grunde sind die einzigen, die das Problem lösen können die Wähler. Wir sind Gott sei Dank eine Demokratie, und die Wähler müßten eine restriktivere Haushaltspolitik fordern. Tatsächlich sind die Staatsschulden keine Zeitbombe ...

Moment, Herr Kessler sprach vorhin von „90 Insolvenzen in 73 Staaten seit 1980“. 

Beck: Staatsinsolvenzen drohen, wenn Staaten in Fremdwährung oder in Gold verschuldet sind und Zins und Tilgungslast nicht mehr stemmen können. In der eigenen Währung verschuldet zu sein ist kein Insolvenzrisiko, da der Staat indirekt durch seine Zentralbank die Hoheit über die Geldproduktion hat und die Grenzkosten null sind. Hohe Schulden in eigener Währung können in hoher Inflation münden, aber nicht in einer unkontrollierten Insolvenz. Die Bonität eines Staates hängt heute im wesentlichen vom Wert seines Steuermonopols und damit vom Wert der Privatwirtschaft des Landes ab. Japan etwa ist daher trotz enormer Schulden nicht insolvenzgefährdet. Fazit: Es ist also noch nicht zu spät für Kurskorrekturen, und wir brauchen daher keine radikalen Lösungen, weder in die eine noch in die andere Richtung. Was wir dagegen dringend brauchen, ist endlich wieder eine langfristig orientierte Wirtschaftspolitik.






Dr. Andreas Beck Jahrgang 1965, ist Geschäftsführer der Vermögensverwaltung Index Capital und ein „Querdenker, dessen Risikobewertungen sich in der Finanzkrise als solide erwiesen haben“ (FAZ).

www.index-capital.info

Olivier Kessler Jahrgang 1986, ist Direktor des Liberalen Instituts in Zürich. Der Schweizer Wirtschaftsjournalist publiziert in etlichen Medien wie der NZZ, Finanz und Wirtschaft oder der Weltwoche. 

www.libinst.ch

Foto: Gesprengte Kette als Sinnbild der Befreiung von Schulden: „Die bei der EZB angehäuften Staatsanleihen könnten in sogenannte Zerobonds mit sehr langen Laufzeiten umgewandelt werden“ (Andreas Beck); „Die nachhaltigere Lösung wäre, Schulden durch Reformen und Verzicht zu finanzieren“ (Olivier Kessler).