© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 13/21 / 26. März 2021

Tim Kellner. Der hemdsärmelige Youtuber führt die rechte Internet-Opposition an.
Hohepriester der Liebe
Tobias Dahlbrügge

Tim Kellner hat Oberarme wie andere Oberschenkel. Der langmähnige Bodybuilding-Hüne krault sich gemütlich seinen grauen Nikolaus-Bart, rückt die getönte Brille in neckischer Herzchenform zurecht, dann legt er los: Leidenschaftlich kommentiert der 47jährige auf seinem Youtube-Kanal täglich in Gestalt seines satirischen Alter egos „Love Priest“, dem „Hohepriester der Liebe, Toleranz und Weltoffenheit“, mit Ironie, Sarkasmus, aber auch Häme das Politikgeschehen. Seiner gleichermaßen doppelbödigen wie hemdsärmligen Art verdankt er eine erstaunliche Reichweite: Über 300.000 Abos, Tendenz steigend, machen Kellner zur unangefochtenen Nummer eins unter den rechten Youtubern.

2020 jedoch landete er vor Gericht. Dort saß er in Jogginghose, wie die Presse vermerkte, der bürgerlich-adrett gekleideten Berliner SPD-Staatssekretärin Sawsan Chebli gegenüber. Die scheiterte damit, ihm den Mund zu verbieten, nachdem er sie als „islamische Sprechpuppe“ geschmäht hatte. Seitdem ist es Teil seiner Show, regelmäßig ihre Egozentrik in der persiflierten Gestalt eines hörigen Verehrers „dieser zartesten Blume des Islam“ zu spiegeln.

Auch wenn ihm gelungen ist, die Qualität seines Programms durch geschickte Wendung ins Ironische stark zu steigern, bleibt es allerdings rein kommentierend – analytisch ist der rechte Youtube-König nicht. Und auch Habitus und Lebenslauf sind alles andere als gehoben. Schließlich ist der bärtige Biker Mitglied eines „1%“-Motorradclubs. Die Zahl gilt Rockern als stolzes Bekenntnis, ‘Outlaw’ zu sein – gegenüber den übrigen 99 Prozent, die für den Rest der Gesellschaft stehen.

Dennoch tritt Kellner ordnungsliebend und gesetzestreu auf. Der Widerspruch ist typisch für den Ostwestfalen: Nach dem Wehrdienst scheitert er damit, American-Football-Profi zu werden. Es folgten eine Banklehre und 26 Jahre als Polizist in Lippe. Auf Übernahme ins SEK verzichtet der Muskelmann, obwohl er die Prüfung mühelos bestand. 

Doch dann der Bruch: Fasziniert vom Rockermilieu, wurde er selbst kriminell. In neun Monaten Haft wegen gefährlicher Körperverletzung schrieb er eine Autobiographie, in der er sich als Opfer von Intrigen sieht, und organisierte eine Spendenaktion für ein Kinderhospiz. Sein Buch „Treibjagd. Vom Cop zum Outlaw“ (2015) bewarb er auf Facebook: Start seiner Internet-Karriere. Er veröffentlichte „Briefe an Merkel“, die sich rasant verbreiteten. Als 2018 Afghanen einen Köthener erschlugen, überrundeten Kellners Kommentar-Klickzahlen selbst die großer Medien wie der Welt.

Da Youtube aber willkürlich löscht, hat er sein Medienportal „Profortis Deutschland“ geschaffen, sicher vor Zensur und Sperrung. Doch anders als auf Youtube sind die Klickzahlen bescheiden. Dennoch hat Kellner klug vorgesorgt, in Zeiten da schon ironische Kritik als „Haß“ gilt.