© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 13/21 / 26. März 2021

Das kann nur ein Anfang sein
Gutachten: Sexueller Mißbrauch durch Priester im Erzbistum Köln wurde systematisch vertuscht / Weitere Aufarbeitung gefordert
Gernot Facius

Eine Mauer des Schweigens und Verschweigens ist am 18. März in der Erzdiözese Köln zu Fall gebracht worden: Der Tag markiert einen Wendepunkt in der jüngeren Geschichte des „rheinischen Roms“ – wie überhaupt im deutschen Katholizismus. 

Kommentatoren sprechen von einem „Kirchenbeben“. Verstorbenen Kardinälen von Weltrang wie Joseph Höffner und Joachim Meisner werden in einem an die 900 Seiten dicken Gutachten der Strafrechtskanzlei Gercke Wollschläger gravierende Pflichtverletzungen angelastet. Die vorübergehend beurlaubten Weihbischöfe Dominikus Schwaderlapp und Ansgar Puff sowie der ehemalige  Generalvikar Norbert Feldhoff müssen eingestehen, im Umgang mit Mißbrauchsfällen Fehler gemacht zu haben. In 75 der 236 ausgewerteten Aktenvorgänge wurden Pflichtverletzungen festgestellt. 23 entfallen allein auf Meisner, einen Vertrauten der Päpste Johannes Paul II. und Benedikt XVI. 

Das Gutachten läßt ihn in keinem guten Licht erscheinen. Meisner hatte, noch lange nach 2010, als gravierende Fälle von sexuellem Mißbrauch bekanntgeworden waren, beteuert, von dem Ausmaß der Verfehlungen „nichts geahnt“ zu haben. Nun mehren sich die Zweifel an dieser Darstellung. 

Keine eindeutigen Verfahrensregeln

Die Namen krimineller Priester, die sich an vorwiegend jungen Menschen unter 14 Jahren vergingen, seien bei ihm nicht in einen Aktendeckel mit der Aufschrift „Straftaten“ sortiert worden, sie „landeten in einer Sammlung mit der kryptischen Bezeichnung ‘Brüder im Nebel‘“, notiert die konservative katholische Tagespost aus Würzburg. Die Frankfurter Allgemeine Zeitung schreibt: Meisner werde als „dreister Lügner“ entlarvt, sein Ansehen sei bis zur Unkenntlichkeit verdunkelt. 

Im heiligen Köln, wird gespottet, sei „der Teufel los“. Die juristischen Gutachter halten dem Kardinal allerdings zugute, daß es während der ersten Hälfte seiner Amtszeit noch keine eindeutigen kirchlichen Verfahrensregeln zum Umgang mit Fällen sexuellen Mißbrauchs Minderjähriger oder Schutzbefohlener gegeben habe. Es habe insoweit an einer hinreichenden Rechtsklarheit und Normenkenntnis gefehlt. Allerdings wäre es die Verantwortung des Kardinals gewesen, Strukturen zu schaffen, die eine solche Klarheit zumindest gefördert hätten. Das Urteil der Juristen: ein „Organisationsverschulden“ Meisners. 

Konsequenz aus dem Desaster? Kirchliche und weltliche Experten sind sich weitgehend einig: Es müsse zu strukturellen Veränderungen kommen. Denn es gehe nicht nur um Köpfe, sondern auch um das System dahinter. „Köln ist überall“, hat ein Sprecher der Betroffeneninitiative zu verstehen gegeben. 

Aus der Politik melden sich schon Stimmen, die davor warnen, die Aufklärung von Mißbrauchsaffären allein den Kirchen zu überlassen. Gefordert wird ein „verbindlicher gemeinsamer und überprüfbarer Rahmen für die Aufarbeitung in ganz Deutschland“, heißt es aus der SPD. Kardinal Woelki hat bereits versprochen, diese Aufgabe künftig unabhängigen Stellen zu überlassen. Eine unabhängige Kommission werde dann das Wie der Aufarbeitung bestimmen. Dazu sei man bereits in Gesprächen mit weltlichen Experten. In der Kölner Erzdiözese, einer der reichsten der Welt, liegt vieles im argen. Die Gutachter haben aufgelistet: desaströse Aktenführung, chaotisches Verwaltungshandeln, subjektiv empfundene Unzuständigkeit, Rechtsunkenntnis von Verantwortlichen und Zweckmäßigkeitserwägungen. 

Oft sei „pastorales“ Handeln an die Stelle von konsequenter Normanwendung getreten. Es ist das erste Gutachten, das Verantwortlichkeiten und Pflichtverletzungen auch dort benennt, wo Geistliche betroffen sind, die noch in Amt und Würden stehen. 

Nur Zwischenschritt auf dem Weg einer Reinigung

Und dann ist da noch Meisners Geheimakte, deren Bekanntwerden die Spekulationen über Vertuschungen weiter anheizt. Kardinal Woelki ist mit der Beauftragung weltlicher Juristen einen Weg gegangen, zu dem sich die meisten Diözesen bisher nicht entschließen konnten. Ihm haben die Kölner Gutachter keine Pflichtverletzungen nachgewiesen – auch nicht im Mißbrauchsfall des mit ihm befreundeten Priesters O. 

Als Woelki 2015 mit der Angelegenheit befaßt worden sei, habe sich der Beschuldigte in einem Zustand befunden, den man im weltlichen Recht mit „verhandlungsunfähig“ bezeichnet hätte. Ist der Kardinal nun ganz entlastet? Der Münsteraner Kirchenrechtsprofessor Thomas Schüller kommt zu einem anderen Schluß: Das jetzt vorgestellte Gutachten sei in weiten Teilen eine „gut inszenierte Verteidigung“ des Auftraggebers Woelki. Als Teil des ehemaligen engsten Beraterkreises seines Amtsvorgängers Meisner sei der heutige Kardinal und frühere Kölner Weihbischof auch ein „aktiver Mitwisser“. 

Er müsse die Frage beantworten, ob er Meisner „bei dessen Vertuschung unterstützt hat“. Im Gutachten gebe es dazu „nur Ausflüchte“. Und wie geht es weiter mit dem Hamburger Erzbischof Stefan Heße, der einst in Köln als Personalchef und Generalvikar amtierte und nach dem Amtsverzicht von Meisner das Erzbistum kommissarisch leitete? Ihm werden in dem Gutachten elf Pflichtverletzungen vorgehalten. Wenige Stunden nach der Veröffentlichung bat er den Papst um Entpflichtung von seinem Amt. Heße bestritt, sich an einer Vertuschung beteiligt zu haben. „Ich weiß heute nicht, wie mein Weg als Mensch, als Christ und als Seelsorger nun weitergehen wird. Ich habe keinen Plan B in der Tasche.“ 

In seiner Zeit in Köln habe Heße schwere Fehler gemacht; vor allem habe er alle bekämpft, die dies hätten öffentlich machen wollen, urteilt die Süddeutsche Zeitung. Sein Rückzug sei nur konsequent: „Wie hätte er noch glaubhaft über Umkehr und Wahrhaftigkeit predigen können.“ Das Gutachten der Kölner Kanzlei ist ein wichtiger Schritt, aber eben nur ein Zwischenschritt auf dem Weg einer gründlichen Reinigung. 

Denn die Kirche sollte sich höhere Ziele stecken als bloß eine „Rechtmäßigkeitskontrolle“. Mit dem Wegräumen der Trümmer, die der „Kölner Tsunami“ hinterlassen hat, ist noch längst nicht alles wieder in Ordnung. Es müßten auch andere Bistümer ihre Hausaufgaben machen. Der Jurist Johannes-Wilhelm Rörig, noch bis Ende des Jahres Unabhängiger Beauftragter für Fragen des sexuellen Kindesmißbrauchs, fordert „absolute Transparenz“. Die Anwälte, lobt er, hätten die Grenzen einer juristischen Aufarbeitung der Skandale gut dargestellt. Es müsse aber auch aufgeklärt werden, „was nicht in den Akten steht“. 

Insgesamt sehe er die Kirche in einer „Vorreiterrolle“. Nun sei es wichtig, daß auch andere Institutionen „es ihr gleichtun“. Allein damit wird die Diskussion über Fehler und Fehltritte nicht zu bremsen sein. Ein juristisches Gutachten sei nicht genug, findet zum Beispiel Claudia Lücking-Michel, Vizepräsidentin des Zentralkomitees der deutschen Katholiken (ZdK): „Weitere Konsequenzen müssen folgen, und vor allem muß das System der Verantwortungslosigkeit beendet werden, das über so viele Jahre Mißbrauch zugelassen und vertuscht hat.“ 

Der innerkirchlich gut vernetzte Bonner Stadtdechant Wolfgang Picken, ein promovierter Politologe, spricht ebenfalls offen aus, was viele im Klerus und in den Organisationen katholischer Laien denken: „Daß Generalvikare, Personalverantwortliche und auch Bischöfe Mißbrauchstäter immer wieder zum Einsatz gebracht haben, hat erneute Taten ermöglicht. Das macht die handelnden Personen in gewisser Hinsicht zu Mitverantwortlichen vieler Wiederholungsfälle“, sagte Picken dem Bonner General-Anzeiger. Und er fordert, daß alle benannten Verantwortlichen jetzt ohne weitere Appelle der Öffentlichkeit „klare Konsequenzen“ ziehen. Das seien sie zuerst den Opfern schuldig. „Lieber jetzt ein Erdrutsch an Rücktritten und eine dementsprechende Explosion als eine unabsehbare Dauerkrise.“





Mißbrauchsaffäre

Im Erzbistum Köln sollen im Zeitraum von 1975 bis 2018 insgesamt 314 Personen sexuell mißbraucht worden sein. Im Dezember 2018 wurde die Münchner Kanzlei Westphal Spilker Wastl mit einem Gutachten beauftragt, das den rechtlichen Umgang mit Mißbrauchsfällen untersuchen sollte. Im Februar 2020 stellt die Kanzlei das Gutachten fertig. Wegen befürchteter Rechtsstreitigkeiten mit darin Genannten wurde die Veröffentlichung gestoppt und der Strafrechtler Björn Gercke mit einem neuen Gutachten beauftragt. Der Sprecher des Betroffenenbeirats warf Erzbischof Woelki „Mißbrauch von Mißbrauchsopfern“ vor. Anfang März räumte Woelki Fehler, die er im Zusammenhang mit der Aufarbeitung begangen habe, ein. In der Folge des nun vorgestellten Gercke-Gutachtens suspendierte Woelki den Domvikar Dominik Schwaderlapp, Weihbischof Ansgar Puff und den bisherigen Leiter des Kirchengerichts, Günter Assenmacher. Hamburgs Erzbischof Stefan Heße, einst Personalchef im Erzbistum Köln, bot dem Papst seinen Rücktritt an.