© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 13/21 / 26. März 2021

Veggie-Day war gestern
Wahlprogramm: Die Grünen wollen weder Revoluzzer- noch Verbotspartei, sondern für möglichst viele Machtoptionen offen sein / Für die Bürger wird es teuer
Jörg Kürschner

Mit dem Rückenwind ihrer Wahlerfolge in Baden-Württemberg und Rheinland-Pfalz haben die Grünen-Parteichefs Annalena Baerbock und Robert Habeck den Programmentwurf für die Bundestagswahl vorgestellt. Mit verbindlichen Formulierungen wird für eine grüne Wohlfühlrepublik geworben, die aber auf einen erheblichen Bruch mit der bisherigen Politik hinauslaufen würde. Die Grünen wollen regieren, mit aller Macht. „Erstmals kämpfen wir um die politische Führung in diesem Land, inhaltlich und personell“. 

In der „neuen Ära“, die die Grünen mit der Wahl am 26. September einläuten wollen, würden in diesem Jahrzehnt 50 Milliarden Euro zusätzlich in die „sozial-ökologische Transformation“ gesteckt werden. Diese gewaltige Summe soll in Bildung, Forschung sowie soziale Infrastruktur investiert und durch eine Aufweichung der Schuldenbremse, Steuererhöhungen und die Wiedereinführung der Vermögenssteuer finanziert werden. Wobei die Vermögenssteuer verdruckst als „bevorzugtes Instrument“ bezeichnet wird. Ab einem Einkommen von 100.000 Euro für Alleinstehende und 200.000 Euro für Paare soll der Steuersatz 45 Prozent betragen, ab 250.000 Euro bzw. 500.000 Euro steigt der Spitzensteuersatz auf 48 Prozent. 

Hartz-IV-Leistungen sollen nach Ansicht der Grünen „ohne Sanktionen das soziokulturelle Existenzminimum“ sichern. Danach könnten Jobcenter Geldleistungen nicht mehr kürzen, wenn Arbeitslose Stellenangebote ablehnen. 

Auch mit ihrer Forderung, den Mindestlohn auf 12 Euro anzuheben, bleibt die Ökopartei anschlußfähig zu Bündnissen mit SPD und Linken. Die Mutmaßung, insbesondere in der Wirtschaftspolitik seien die potentiellen Koalitionspartner Grüne und Union programmatisch nahe beieinander, ist durch dieses Wahlprogramm widerlegt. Die Schuldenbremse, die die Grünen „zeitgemäß gestalten“, also aufweichen wollen, gehört in der Union zum überschaubaren Kernbereich ihrer Grundsatzpositionen. Ganz abgesehen davon, daß die erforderliche Grundgesetzänderung nur mit Zweidrittelmehrheiten im Bundestag und Bundesrat möglich wäre. 

„Signale für Mehrheiten jenseits der Union“

Das Programm sei „nicht mit Blick auf Koalitionspartner geschrieben“ worden, verteidigte Habeck den erheblichen Finanzierungsvorbehalt. Im Programm heißt es dazu kleinlaut: „Wir können nicht versprechen, daß nach Corona jedes unserer Projekte noch finanzierbar ist“. Da wirkt die Überschrift des Programms „Deutschland. Alles ist drin“, entwaffnend ehrlich. 

Die bekannte Forderung nach einem Tempolimit von 130 Stundenkilometern auf Autobahnen oder die Absage, zwei Prozent des Bruttoinlandsprodukts im Rahmen der Nato für Verteidigung auszugeben, werden bei CDU und CSU sicher nicht auf Begeisterung stoßen. „Die Klimakrise ist die Existenzfrage unserer Zeit“, wird der Leser gleich zu Anfang des 137seitigen Programms auf das Gründungsthema der Grünen hingewiesen. 

Dementsprechend ultimativ sind die Forderungen: Der Kohleausstieg soll nicht bis 2038 erfolgen, sondern bereits 2030. Der CO2-Preis soll ab 2023 auf 60 Euro pro Tonne steigen, derzeit sind es 25 Euro. Für den Bau von Windrädern dürfe es keine „Verhinderungsplanungen, etwa über exzessive Mindestabstände zu Siedlungen“ geben. 

An die Adresse möglicher Koalitionspartner gerichtet, stellte Habeck klar: „Der Klimaschutz muß umgesetzt werden, sonst sind wir da überflüssig in der Regierung“. Es überrascht nicht, daß die Flüchtlings- und Zuwanderungspolitik weiterhin erheblichen Konfliktstoff mit der Union birgt. Denn die Grünen wollen die Grenze zwischen Staatsbürgern und Einwohnern nivellieren. Nach fünf Jahren Aufenthalt in Deutschland soll jeder nur geduldete Einwanderer einen Antrag auf Einbürgerung stellen können. Wer hier ohne Aufenthaltstitel lebt, aber „im Arbeitsmarkt integriert ist“, hat Anspruch auf den deutschen Paß. 

Der Zwang, sich für eine Staatsbürgerschaft zu entscheiden, soll wegfallen. SPD-Generalsekretär Lars Klingbeil lobte die „guten Signale für Mehrheiten jenseits der ambitionslosen Union“. Mit Eifer widmen sich die Grünen ihrem Lieblingsthema, den sexuellen Minderheiten. „Lesben, Schwule, Bisexuelle, Trans*-, Inter*- und queere Menschen (LSBTIQ*) sollen selbstbestimmt und diskriminierungsfrei ihr Leben leben können“, lautet die Zielvorgabe. Mit der Ergänzung des Grundgesetzes um den Begriff „sexuelle Identität“ will man die Akzeptanz dieser Minderheiten verbessern. Das endgültige Wahlprogramm soll auf einem Parteitag im Juni verabschiedet werden. Zwischen Ostern und Pfingsten entscheidet sich, wer von den Parteichefs Kanzlerkandidat wird.