© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 13/21 / 26. März 2021

Sieben Irrtümer über Schulden
Sind hohe Staatsschulden immer ein Problem? Eine differenzierte Analyse
Dirk Meyer

Sind Staatsschulden ein Problem? Nein, sagen die einen mit Verweis auf Negativzinsen und niedrige Inflation. Ja, sagen die anderen und führen die Belastung zukünftiger Generationen, Inflationsgefahren sowie drohende Staatsinsolvenzen (Italien, Griechenland) ins Feld. Die Schuldendiskussion ist jedenfalls in vollem Gange. Ob es um Corona-Hilfen des Bundes mit Neukrediten im Umfang von 218 Milliarden Euro (2020) und 180 Milliarden Euro (2021) geht, um ein 750 Milliarden Euro schweres kreditfinanziertes Wiederaufbaupaket Next Generation EU (NGEU) mit Gemeinschaftshaftung (Eurobonds) oder um  die Kontroversen um eine Aufhebung der Schuldenbremse und einen Schuldenerlaß. Doch was ist richtig und wo bestehen Irrtümer?





Irrtum eins: Die sparsame schwäbische Hausfrau als Vorbild

Betrachtet man die Volkswirtschaft als Ganzes, wird der gedankliche Fehler offensichtlich: Es ist ausgeschlossen, daß alle sparen und sich niemand verschuldet. Es sei denn, dem Ausland werden Kredite gewährt, indem das Inland einen Teil seiner Produktion (BIP) nicht selbst verwendet und dem Ausland als Exportüberschuß zur Verfügung stellt. Dies ist dann der Fall, wenn bei einer bislang ausgeglichenen Handelsbilanz etwa zusätzliche Beatmungsgeräte nach Italien gehen. Dann steht Italien „im Minus“, hat also gegenüber Deutschland aus dem Handel per Saldo einen Kredit offen. Umgekehrt erwirbt Deutschland dann Vermögen, konkret eine Schuldverschreibung des italienischen Krankenhauses. Die deutsche Volkswirtschaft „spart“ also. 2019 war dies insgesamt ein Betrag von 223 Milliarden Euro (6,5 Prozent/BIP), 2020 Corona-bedingt niedriger.





Irrtum zwei: Private und staatliche Verschuldung sind das gleiche

Ein privater Kredit zur Finanzierung eines Autos oder einer Immobilie erfordert Sicherheiten. Die Bank verlangt die Eintragung einer Hypothek ins Grundbuch, der Pkw-Brief wird einbehalten. Bei einem Firmenkredit dienen die Rentabilität der Investition und haftendes Eigenkapital als Sicherheitspuffer. Eine Staatsverschuldung benötigt hingegen lediglich das Vertrauen der Anleger, daß die Anleihen späterhin bedient werden. Anhaltspunkte sind der bisherige Schuldenstand im Verhältnis zum BIP, die Stabilität des politisch-gesellschaftlichen Systems sowie die Produktivität der Wirtschaft, die letztendlich die Steuerlast für die Rückzahlung aufbringen muß.

Zwei weitere Punkte machen den Staatskredit besonders: Zum einen kann die Regierung infolge des staatlichen Machtmonopols jederzeit die Steuerschraube zwecks Entschuldung anziehen – soweit ein Wille vorhanden ist. Hat zum anderen der Staat eine eigene Währung und ist die Zentralbank nicht unabhängig in ihrem Handeln, kann die Regierung ihren Einfluß auf die Notenbank geltend machen und sich notfalls das Geld selbst drucken (Irrtum sechs). Ist die Währung zudem eine Weltleitwährung wie der US-Dollar, dann gelten die USA als sicherer Hafen und die Staatsanleihen genießen bei Investoren wie Banken und Versicherungen ein hohes Ansehen. Bei nur niedriger Verzinsung finden sie jederzeit Abnehmer.





Irrtum drei: Der Euro ist eine Währung wie der US-Dollar

Falsch, denn für die Euro-Mitgliedstaaten ist die Euro-Währung eine Fremdwährung. Kein einzelnes Mitglied kann sich die Euros selbst drucken, wenngleich Ausnahmen (Target und ANFA) diese Regel bereits aufweichen. Nur das Kollektiv der 19 Euroländer kann gemeinschaftlich im EZB-Rat das Euro-Zentralbankgeld herausgeben. Wir haben hier also den Sonderfall eines nur gemeinschaftlichen Euro-Zugriffs. Von daher kann sich Italien derzeit nicht das eigene Staatsgeld drucken – was mit einer Lira-Parallelwährung möglich wäre.

Allerdings bedient sich das Eurosystem auf Druck der mediterranen Krisenstaaten und der Geschäftsbanken Frankreichs und Deutschlands, die entsprechende ausfallgefährdete Staatspa-piere in den Bilanzen haben, eines Umgehungstricks. Seit 2015 haben die EZB und die nationalen Notenbanken im Rahmen zweier Programme (PSPP/PEPP) damit begonnen, Staatsanleihen in erheblichem Umfang anzukaufen. Bislang hat das Eurosystem (Stand 30. September 2020) 2.628 Milliarden Euro (23,7 Prozent) der Staatsschulden der Mitgliedstaaten in den Büchern. Allein an italienischen Staatsanleihen befinden sich 507 Mrd. Euro (19,6 Prozent) in den Bilanzen der EZB und der Banca d’Italia. Zwar begründet die EZB den Ankauf offiziell mit der Notwendigkeit, die niedrige Inflationsrate auf „unter, aber nahe zwei Prozent“ anzuheben. Damit möchte sie der Gefahr einer Deflation vorbeugen, denn erwartete Preisrückgänge könnten zu einem Aufschub von Käufen führen und die Konjunktur abwürgen. Interne Quellen heben jedoch die Rückführung von ansteigenden Zinsen für mediterrane Staatspapiere hervor, die ein zunehmen-des Ausfallrisiko anzeigen. Von daher stellt die EZB ihre Unabhängigkeit in Frage und bedient das fiskalische Ziel, den Kreditzugang für Krisenstaaten zu tragbaren Zinskosten offenzuhalten. Sie wird zum „Retter der letzten Instanz für Staaten“.





Irrtum vier: Staatsschulden belasten kommende Generationen 

Nicht generell: Es gilt vielmehr der Grundsatz, daß die Ausgaben einer Volkswirtschaft immer aus dem laufenden Volkseinkommen, also aus der gegenwärtigen Produktion, erbracht werden müssen. Die Anschaffung eines Pkw setzt lediglich seine Produktion voraus – unabhängig ob sie aus Erspartem oder aus Krediten finanziert wird. Unter der Annahme einer voll ausgelasteten Wirtschaft kann mit einer Erhöhung der Staatsausgaben durch neue Staatskredite im laufenden Haushaltsjahr nur eine Umverteilung des Güterzugriffs zugunsten des Staates bewirkt werden.

Beispielsweise finanziert der Staat damit kommunale Straßenbau- und Schulbauprojekte. Infolge der ausgelasteten Kapazitäten konkurriert die zusätzliche staatliche Nachfrage mit den Baumaßnahmen privater Investoren. Es kommt zu Preis- und Zinssteigerungen. Man spricht von der Verdrängung privater Investitionen durch kreditfinanzierte Staatsausgaben. Ähnlich verdrängen in so einer Situation kreditfinanzierte Sozialausgaben zugunsten Bedürftiger den Konsum nicht begünstigter Bürger.

Eine Ausnahme bildet die Situation einer nicht ausgelasteten Wirtschaft, wo der Staat über kreditfinanzierte Zusatzausgaben die konjunkturelle Nachfragelücke ohne Verdrängungseffekte schließen kann und damit erst zur Vollbeschäftigung beiträgt: die keynesianische Defizitfinanzierung. Betrachtet man die finanzielle Seite eines Staatskredites, so führt dies zum gleichen Er-gebnis: Die Staatsanleihen in den Händen der alten Generation werden an die jüngere vererbt. Bei Fälligkeit werden die Anleihen an die Erbengeneration zurückgezahlt – entweder aus Steuermitteln, sinkenden Haushaltsausgaben oder aus einem Anschlußkredit. Es gibt keine intergenerative Umverteilung, allenfalls eine zwischen den Begünstigten und den belasteten Steuerzahlern einer Generation.

Lediglich ein Anzapfen der Güterproduktion des Auslandes über einen Nettoimport von Waren und Dienstleistungen würde dieses geschlossene System umgehen. Dieser Importüberschuß entspricht dann zugleich einem Kapitalimport, denn die zusätzlichen Importe werden über einen Kredit des Auslandes finanziert. Da dieser die Vermögensposition des Importlandes schwächt, würde bei Begleichung durch einen späteren Exportüberschuß tatsächlich die zukünftige Generation belastet werden. Kritisch wäre auch einzuwenden, daß das zukünftige Wachstum bei einer konsumtiven (Sozialausgaben statt Infrastruktur) und/oder verschwenderischen Verwendung der Kredite niedriger ausfallen dürfte. Auch schränken Zins- und Tilgungszahlungen den zukünftigen staatlichen Spielraum ein. Diese Faktoren belasten dann sehr wohl die zukünftige Generation.





Irrtum fünf: Auf Schuldentilgung kann man verzichten 

Der Wert dieser Anleihen ohne Tilgung – in England gab es diese bereits – resultiert aus den Zinserträgen. Bei Null- oder Negativzinsen würde jedoch keine Bank und keine Versicherung diese Papiere langfristig erwerben wollen. Und bei wieder steigendem Kapitalmarktzins würden hohe Verluste bei sinkendem Kurswert der Papiere drohen.





Irrtum sechs: Staatsverschuldung ist zum Nulltarif möglich 

Diese These gründet auf der Modern Monetary Theory (MMT). Indem die Regierung ihrer Notenbank jederzeit Staatsanleihen zur Gutschrift auf das Regierungskonto einreichen kann, druckt sie sich das Geld selbst – so die Theorie. Damit wird die Zentralbank zum Anhängsel der Regierung. Indem die Regierung Macht über ihre Zentralbank hat, muß sie ihre Ausgaben nicht am Kapitalmarkt finanzieren, sondern ist der Schöpfer ihres eigenen Kredits. Folglich kann die Regierung als „Arbeitgeber der letzten Instanz“ – so Vertreter der MMT – nicht nur für Vollbeschäftigung sorgen, sondern auch die Umverteilung beliebig steuern. Bankrott ausgeschlossen?

Die Achillesferse der MMT ist die Papierwährung, welche soziale Akzeptanz erfordert. Fehlt diese Akzeptanz, verliert die Währung an Wert – nach innen durch Inflation, nach außen durch massive Abwertung. Würde eine moderate Geldentwertung noch akzeptiert, so werden die Bürger spätestens bei einer Hyperinflation eine „Abstimmung mit den Füßen“ vornehmen. In Argentinien (Inflation 36 Prozent pro Jahr) und Venezuela (Hyperinflation ca. 6.500 Prozent pro Jahr) ersetzt der US-Dollar in kleinen Scheinen das Staatsgeld. Gold oder die Roggenmark (Deutschland 1923) sind Beispiele für die Rückkehr des Warengeldes in unsicheren Zeiten.

Ein weiterer Fallstrick wurde bereits erwähnt: In der Eurozone hat kein Land Zugriff auf die Notenpresse – es sei denn, eine neue EU-Ordnung mit einem europäischen Finanzministerium gewährt den Regierungszugang zur EZB. Das kreditfinanzierte 750-Milliarden-Euro-Wiederaufbaupaket (NGEU) könnte den Zellkern bilden.





Irrtum sieben: Schuldenerlaß der EZB bietet die Lösung

Wie eine Studie unseres Instituts zeigt (siehe Verweis unten), ist eine spürbare Entlastung der Krisenstaaten Italien, Griechenland, Spanien und Portugal kaum möglich, wenn eine Ungleichbehandlung der Staaten durch Transferelemente vermieden werden soll. Es besteht ein Trilemma aus angestrebter Gleichbehandlung, signifikanter Entlastung und der Vermeidung von Fehlanreizen. Auch dürfte ein Verstoß gegen das Verbot der monetären Staatsverschuldung vorliegen.

Die Irrtümer weisen auf die Notwendigkeit einer differenzierten Betrachtung. Die Einhegung der Staatsverschuldung durch eine verfassungsmäßige Selbstbindung des Parlamentes erscheint naheliegend. Damit gemäß des US-amerikanischen Philosophen John Rawls (1921–2002) „langfristig und generationenübergreifend ein faires, leistungsfähiges und produktives System der sozialen Kooperation aufrechterhalten werden kann“, sollte eine relativ strikte Schuldenbremse (Artikel 109 Absatz 3 GG), die wie im Corona-Fall eng begrenzte Ausnahmen zuläßt, weiterhin Beachtung finden. Ihre Abschaffung würde gerade die Spielräume unmöglich machen, die sich jetzt als notwendig und hilfreich erwiesen haben. Italien zeigt, wohin eine Mißachtung führen kann.

Studie des Instituts für Volkswirtschaftslehre, Lehrstuhl für Ordnungsökonomik, Helmut-Schmidt-Universität – Universi-tät der Bundeswehr Hamburg: Dirk Meyer, Arne Hansen (2020): Ein Schuldenerlaß als Ende mit Schrecken? Das ESZB als Kreditgeber der letzten Instanz für Staaten, in: Zeitschrift für Wirtschaftspolitik, 69. Jahrgang (2020), Heft 3, Seite 277–307

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 Kontakt zum Verfasser: dirk.meyer@hsu-hh.de

(Grafiken siehe PDF)