© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 13/21 / 26. März 2021

Vom Impffortschritt hängt alles ab
Deutsche Konjunkturprognose: Während es in China und den USA aufwärts geht, pausiert Europa
Paul Leonhard

Die Zahlen sind dramatisch: Hotels, Gasthöfe und Pensionen verzeichneten von März 2020 bis Januar 2021 ein Umsatzminus von 57 Prozent. Die Beschäftigtenzahl reduzierte sich um 19,2 Prozent – Kurzarbeit nicht mitgerechnet. Laut einer aktuellen Ifo-Umfrage fürchten in der Reisebranche und bei den Hotels vier von fünf Unternehmen um ihre Existenz. Im Einzelhandel rechnet jeder dritte Befragte damit, die Corona-Pandemie geschäftlich nicht zu überstehen.

Dennoch appellieren Bund und Länder weiterhin „eindringlich“ an alle Bürger, „auf nicht zwingend notwendige Reisen im Inland und auch ins Ausland zu verzichten – auch hinsichtlich der bevorstehenden Ostertage“. Der umsatzstarke Gründonnerstag und der folgende Samstag werden „einmalig als Ruhetage definiert“. Durch das „Ansammlungsverbot“ vom 1. bis 5. April wird auch der heimischen Außengastronomie jede Umsatzmöglichkeit genommen.

Einen anderen Blickwinkel haben die deutschen „Wirtschaftsweisen“ (JF 10/21): „Deutsche Wirtschaft trotz längerem Shutdown robust – im Sommer weitere Erholung zu erwarten.“ Diesen Satz, der wie aus einem Investorenprospekt klingt, hat der Sachverständigenrat zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung als Überschrift für seine Pressemitteilung zur „Konjukturprognose für 2021 und 2022“ gewählt. Das dürfte nicht nur für die im Lockdown festsitzenden Unternehmer und ihre Beschäftigten wie Hohn klingen.

Wirtschaft zum Jahresende wieder auf Vorkrisenniveau?

Doch die deutsche Gastrobranche mit ihren 2,4 Millionen Beschäftigten macht jährlich „nur“ einen Umsatz von etwa 100 Milliarden Euro. Allein der VW-Konzern verzeichnete 2020 einen Umsatz von 222,9 Milliarden Euro. Bei BASF waren es 59,1 Milliarden Euro – lediglich 167 Millionen Euro weniger als 2019. Und Wirtschaftsweise wie Monika Schnitzer haben vor allem das „große Ganze“ im Blick: „Die Wirtschaftsleistung wird voraussichtlich zum Jahreswechsel 2021/22 wieder ihr Vorkrisenniveau erreichen“, prognostiziert die Münchner Ökonomieprofessorin.

Gestützt wird der Optimismus vor allem durch die Normalisierung des privaten Konsums sowie durch eine kräftige Auslandsnachfrage. Im laufenden Jahr werde das deutsche Bruttoinlandsprodukt (BIP) um 3,1 und 2022 um vier Prozent wachsen – wenn das Impfen tatsächlich vorankommt: „Sobald es gelingt, das Infektionsgeschehen effektiv zu begrenzen und größere Anteile der Bevölkerung zu impfen, dürften sich die von den Kontaktbeschränkungen oder Schließungen stark betroffenen Dienstleistungsbereiche wie das Gastgewerbe oder der stationäre Einzelhandel wieder beleben“, glaubt der gewerkschaftsnahe Wirtschaftsweise Achim Truger.

Daß die Politik bei der Impfstoffbeschaffung völlig versagt hat, verstecken die fünf Regierungsberater nur zwischen den Zeilen des 55seitigen Gutachtens. Die Anzahl der täglichen Impfungen müsse um 50 Prozent gesteigert werden, fordert der Sachverständigenrat. Dazu müßten Haus- und Fachärzte in den Impfprozeß einbezogen werden. Fragt sich nur, woher die Impfstoffe kommen sollen, da die Bundesregierung faktisch ausländischen Regierungen den Erstzugriff auf den in Deutschland entwickelten Biontech-Impfstoff gewährt hat.

Das britische Vakzine von Astrazeneca darf erst ab April mit viel Bürokratie von Hausärzten gespritzt werden. Russische oder chinesische Impfstoffe sind politisch bisher nicht erwünscht. In den USA werden selbst tiefkühlpflichtige mRNA-Impfstoffe in Supermärkten und Apotheken verabreicht. 2,5 Millionen Bürger werden täglich geimpft. 110 Millionen (ein Drittel der US-Bevölkerung) haben bereits mindestens eine Impfdosis erhalten – anfangs nur von Biontec/Pfizer. In Deutschland gibt es bislang nur 7,5 Millionen (neun Prozent) Geimpfte.

„Anstieg der Geldschöpfung im Bankensystem“

Der Wirtschaftsweise Volker Wieland ist daher vorsichtig: Die wirtschaftliche Dynamik komme nur, „wenn weitere Fortschritte in der medikamentösen Behandlung von Covid-19 erzielt, Infektionsketten durch den Einsatz digitaler Technologien schneller verfolgt, neue Teststrategien eingesetzt oder gezieltere Maßnahmen zum Schutz vulnerabler Gruppen getroffen werden“. Sprich: Impfversagen, die dritte Infektionswelle mit weiteren Einschränkungen und möglichen Betriebsschließungen in der Industrie seien „das größte Risiko“ für die Konjunktur in Deutschland.

Aufwärts gehe es höchstwahrscheinlich in China und den USA, während die „Erholung in Europa pausiert“. Und das liegt nicht nur an fehlenden Impfstoffen und hohen Infektionszahlen in den EU-Staaten. In Kroatien und Zypern tragen die Auslandstouristen zu über zehn Prozent zum BIP bei. In Bulgarien, Griechenland und Portugal sind es 7,5 bis zehn Prozent, in Österreich, Spanien und Ungarn sind es etwa sechs Prozent. Die Anzahl an Übernachtungen von Gästen aus dem Ausland lag 2020 in der EU um 70 Prozent unterhalb des Vorjahresniveaus.

Die wirtschaftliche Erholung dürfte daher vor allem in Ländern mit einem vergleichsweise großen Tourismussektor deutlich langsamer vonstatten gehen – auch weil die Bundesregierung von den reisefreudigen Deutschen weiterhin verlangt, „der grenzüberschreitende Reiseverkehr“ müsse „auf das absolut erforderliche Mindestmaß begrenzt werden“. Sorgen bereitet den Wirtschaftsweisen zudem der „sehr starke Anstieg der Geldschöpfung im Bankensystem“, der zu einer erheblichen Ausweitung der Geldmenge geführt hat. Das seit der Corona-Krise stark gestiegene Geld- und Kreditwachstum berge „in der mittleren Frist Risiken für die Finanzmarktstabilität“. Dann könne es zu einem starken Anstieg der Insolvenzen und der Arbeitslosigkeit kommen.

Und angesichts der immensen Corona-Hilfen deuten die Wirtschaftsweisen sogar die nächste Euro- und Finanzkrise an: „Schließlich könnten die notwendigen Stützungsmaßnahmen für Unternehmen und Beschäftigte die fiskalischen Möglichkeiten von stark verschuldeten Staaten übersteigen. Bei einer Verschlechterung der weltweiten Finanzierungsbedingungen besteht bei einzelnen Schwellenländern zudem die Gefahr von plötzlichen Kapitalabflüssen sowie der Abwertung der nationalen Währungen.“ Wie robust dann die deutsche Exportwirtschaft ist, prognostizieren die Wirtschaftsweisen lieber nicht.

„Konjukturprognose für 2021 und 2022“: www.sachverstaendigenrat-wirtschaft.de