© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 13/21 / 26. März 2021

Der Untertan boxt sich durch
Ein Konservativer, der in die Revolution verliebt war: Zum 150. Geburtstag des Schriftstellers Heinrich Mann
Wolfgang Müller

Im Spiegelsaal des Schlosses zu Versailles wurde am 18. Januar 1871 das zweite Deutsche Kaiserreich aus der Taufe gehoben. Zehn Wochen später, am 27. März, erblickte in einem Patrizierhaus der Freien und Hansestadt Lübeck Heinrich Mann das Licht der Welt, der erste Sohn eines der Notabeln dieser winzigen Republik, des Getreidehändlers und späteren Finanzsenators Thomas Johann Heinrich Mann. Eine bemerkenswerte Koinzidenz, wie Heinrich Manns Biograph Klaus Schröter findet: Kaum ist der deutsche Einheitsstaat verwirklicht, da liege bereits der nachmals „scharfsichtigste, klügste Darsteller und Kritiker des deutschen Kaiserreichs und seiner Nachfolger, ihrer Gesellschaft, ihrer Politik und Geschichte“ in der Wiege.  

Anders als für den Literaturhistoriker Schröter waren peripherer Geburtsort, großbürgerliches Herkunftsmilieu und ausgeprägte „Reichsfeindschaft“, die in aggressiven Tönen im Roman der „Der Untertan“ (1919), aber auch in zahllosen publizistischen, deutsche Zustände zum düsteren Kontrast wählenden Huldigungen an die maßlos verklärte Dritte Republik der Franzosen erklang, für den Geschichtsdenker Christoph Steding mehr als bloß ein beachtlicher kalendarischer Zufall. Denn das seit dem Mittelalter der Reichsgewalt so gut wie entzogene Lübeck habe in der Neuzeit ein ganz auf Wirtschaft und Handel konzentriertes, „immer unpolitischer und immer kultureller werdendes Dasein“ gefristet.

Zur Zeit der Reichsgründung bereits im Stadium der „Erlahmung des politischen Vermögens, der endgültigen Entleerung von allen politischen, Einheit stiftenden Kräften“ angekommen, tat sich die Mentalität der „hansischen Kulturmenschen“ mit der neuen Ordnung der Dinge schwer. Es sei daher nur konsequent gewesen, daß die Witwe des 1891 frühverstorbenen Senators mit ihren dem Kaufmännischen abholden Söhnen Heinrich und Thomas, die sich fortan dank einer bescheidenen Rente aus dem väterlichen Erbe als „freie Schriftsteller“ betätigten, 1893 nach München übersiedelte. Dort etablierte sich das Sammelbecken aller Oppositionellen des wilhelminischen Deutschland, aller geistigen Häupter der von Bismarck niedergeworfenen Duodezstaaten des Reiches, die dem 1871 verlorenen Glück im Winkel ihrer „partikulären Existenz“ nachtrauerten und ihre Ressentiments gegen Preußen und Berlin pflegten („Das Reich und die Krankheit der europäischen Kultur“, 1938).

Heinrich Mann gab sein Romandebüt 1894 mit „In einer Familie“, einer Ehebruchsgeschichte. Bis 1906 füllte der hastig produzierende Vielschreiber vier Bände Novellen und Erzählungen. 1900 legte er mit „Im Schlaraffenland“ den ersten sozialkritischen Roman des 20. Jahrhunderts vor. Es ist ein Porträt der vom materialistischen Ungeist zerfressenen Gesellschaft der Gründerzeit, dessen alles beherrschende Figur der Börsenspekulant und Millionär Türkheimer ist, der mächtigste Mann Berlins, eine satirisch überspitzte Figur, in der manche Interpreten Bismarcks Bankier Gerson Bleichröder wiederkennen.

Solches Vortasten zu literarischer Gesellschaftskritik endete mit dem Opus magnum dieser Schaffensperiode, der Trilogie „Göttinnen“ (1903). Dieses schwülstige Epos, Blätterteig mit Kitsch-Füllung, kündet, den Renaissancekult um 1900 befeuernd, von den „von Brunst durchglühten Abenteuern“ einer liebestolleren Schwester von Wilhelm Heinses Superheldin Fiorimonda („Ardinghello und die glückseligen Inseln“, 1787, JF 8/21) und spekuliert auf ein Publikum, das dem Autor auf seiner Flucht aus dem entzauberten Gegenwartsalltag ins Phantasieland der Vergangenheit folgt, wo der nietzscheanisch aufgepeppte Amoralismus einer Übermenschen-Equipe sich hemmungslos austoben darf. Wie in dem im gleichen Jahr veröffentlichten Roman „Jagd nach Liebe“ erwartet den Leser, wie sich Bruder Thomas beschwert, allenthalben „schlaffe Brunst in Permanenz und fortwährender Fleischgeruch“: „Man begreift nicht, wie Du jeden Vormittag wieder davon anfangen mochtest, nachdem doch gestern bereits ein normaler, ein tribadischer und ein Päderasten-Aktus stattgefunden hatte …“

Heinrich Mann hatte sich künstlerisch offensichtlich in eine Sackgasse manövriert. Denn das Frühwerk schien allein die gängige Definition zu illustrieren, der zufolge Dekadenz der Zustand einer extrem liberalen Gesellschaft sei, der es an zum Gemeinschaftsleben tauglichen Menschen fehle. Das war ein korrekter Befund, aber keine ausreichende Basis für einen Schriftsteller, den der Ehrgeiz antrieb, nach dem Muster von Balzac und Zola der wilhelminischen Gesellschaft den Spiegel in Form einer Comédie humaine vorzuhalten.

Zweifel an seinem Vermögen, die hochkomplexe Wirklichkeit einer modernen Industrienation künstlerisch zu bewältigen, bewogen Mann schon 1895, ein journalistisches Intermezzo zu riskieren und für ein Jahr die Herausgeberschaft der „gemäßigt antisemitischen“ Zeitschrift Das Zwanzigste Jahrhundert. Blätter für deutsche Art und Wohlfahrt zu übernehmen und deren fleißigster Beiträger zu werden. Außenpolitisch empfahlen Manns Artikel der Reichsleitung, sich mit Frankreich zu versöhnen, um gemeinsam – hier kristallisieren sich bereits wesentliche Elemente des Weltbildes seiner „zutiefst unpolitischen Natur“ (Joachim Fest) heraus – an den Vereinigten Staaten von Europa zu bauen, das Joch des „fürchterlichen Militarismus“ abzuschütteln und dem „ewigen Frieden als eines der ersten und erhabensten Menschheitsideale“ zuzustreben.

Ebenso aufschlußreich, auf im Kern nie wieder revidierte Positionen verweisend, sind die innen- und sozialpolitischen Ideale, an denen Heinrich Mann seine Kritik an dem nach Bismarcks Sturz proklamierten „Neuen Kurs“ Wilhelms II. ausrichtet. Sie ähnelt verblüffend jener, die Max Weber 1895 in seiner berühmten Freiburger Antrittsvorlesung äußerte. Der Kaiser spalte die Nation lautet unisono die Anklage. Weil er, so Webers Vorwurf, einseitig die ostelbischen Agrarier fördere, beziehungsweise, so Mann, „auf Kosten des im ganzen Lande redlich sich abmühenden Mittelstandes Kapital, Juden und Großindustrielle“ begünstige, was wiederum die klassenkämpferische Aggressivität des Proletariats schüre. 

Als deklassierter Patriziersohn und schriftstellernder Kleinrentner, der den Mittelstand in die Zange genommen sieht zwischen goldener und roter Internationale, mobilisiert Mann dagegen typisch neokonservative Abwehrreflexe, „den Haß auf Technik, Modernität und Neureichtum“. Herbeigewünscht, so der französische Germanist André Banuls, werde stattdessen ein der anachronistisch-aristokratischen Verfassung der Lübecker Stadtrepublik recht ähnlicher, hierarchisch gegliederter Ständestaat, dessen Geschicke die „Klasse der ehrenhaften Großkaufleute“ lenkt, ohne den Mittelstand zu untergraben („Heinrich Mann“, 1970). In der Weimarer Republik wandelt sich diese Idealverfassung zur „Diktatur der Vernunft“, ausgeübt von einer anstelle der ehrbaren Kaufleute tretenden geistigen Elite, die nach der revolutionären Beseitigung der schnöden Geldherrschaft endlich Manns harmonisch-mittelständische Ordnung heraufführt.

Die 1905 mit „Professor Unrat“ vollzogene Wende hin zum Chronisten der „öffentlichen Seele unter Wilhelm II.“, konnte wegen solcher von Erfahrungen modernen Weltbildzerfalls unberührten Dispositionen des Autors nur wüst verzerrende, jede Wirklichkeitstiefe entbehrende Kolportage zeitigen. Die – übrigens 1912/13 in wesentlichen Teilen ohne Zensurprobleme im Münchner Satireblatt Simplicissimus vorab veröffentlichte – Geschichte des „Untertanen“, des forciert kaisertreuen Papierfabrikanten Diederich Heßling, geriet daher, wie sein Schöpfer rückblickend gestand, lediglich zum „romanhaften Leitartikel“ – so wie seine gesamte vielbändige „sozialkritische“ Romanproduktion bis 1933.

Für Heinrich Mann hatte das Kaiserreich allerdings kein Patent auf den Untertanengeist. Doch zeigt die Rezeptionsgeschichte des „Untertanen“, daß diese so groteske wie komische Karikatur es den Herrschenden in der Bonner, Pankower und Berliner Republik sehr erleichtert hat, sich gegenüber dem vermeintlich rückständigen wilhelminischen Obrigkeitsstaat als das jeweils „beste Deutschland, das es je gab“, zu inszenieren. So zuletzt mit der geschichtsklitternden Rede des Bundespräsidenten zum Tag der Deutschen Einheit am 3. Oktober 2020. Frank-Walter Steinmeier bewegte sich damit in schlechter SED-Tradition. Hatten 1951 doch ausgerechnet Stalins Satelliten mit Wolfgang Staudtes Defa-Verfilmung des „Untertanen“ ihren Arbeiter- und Bauern-Staat als humaneren Gegenentwurf zum Kaiserreich präsentieren wollen. Was den Spiegel (Ausgabe vom 12. Dezember 1951) zu einem schneidigen Verriß provozierte: „Der Film läßt vollständig außer acht, daß es in der ganzen preußischen Geschichte keinen Untertan gegeben hat, der so unfrei gewesen wäre wie die volkseignen Menschen unter Stalins Gesinnungspolizei es seither geworden sind.“ 

Der mittelständische Unternehmer Diederich Heßling hingegen, der, wie genauere Lektüre erweist, im provinziellen Netzig keineswegs mit dem Strom schwimmt, sondern sich gegen das nationalliberale Establishment, 1848er-Honoratioren, großkapitalistische Konkurrenten und staatsfromme Sozialdemokraten couragiert durchboxt, rückt heute, wo der Konformismus Urständ feiert, die „Erziehung zur Mündigkeit“ (Adorno) passé ist, Political Correctness und Cancel Culture Heerscharen unterwürfiger Diener dressieren und Entpersönlichung das Lernziel aller westlichen Universitäten ist, sogar George Orwells sperrigem Helden Winston Smith etwas näher, der sich in „1984“ von Big Brothers bravem Untertan zum Widerstandskämpfer wandelt. 

Die Jahrestagung der Heinrich-Mann-Gesellschaft zum 150. Geburtstag ihres Namenspatrons sollte ursprünglich in dieser Woche stattfinden, mußte coronabedingt aber auf das nächste Jahr verschoben werden.

 https://heinrich-mann-gesellschaft.de