© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 13/21 / 26. März 2021

Ein Unterweltkönig im Ghetto
Belletristik: Szczepan Twardoch erzählt in „Das schwarze Königreich“ von der deutschen Besatzung Warschaus
Filip Gaspar

Jakub Shapiro, der Hauptprotagonist in Szczepan Twardochs Vorgängerroman „Król“ (deutsch „Der Boxer“) von 2018, ist nicht bloß zu Ruhm als Boxer für den Boxclub Makkabi Warszawa gelangt, sondern hat den Aufstieg vom Handlanger zum Paten der Unterwelt des Vorkriegs-Warschaus geschafft. Die Frauen lagen ihm zu Füßen, Geld spielte keine Rolle, und er wurde in ganz Warschau respektiert, und das als Jude wohlgemerkt.

Als sich 1937 die Situation für die jüdische Bevölkerung Warschaus immer mehr zuspitzt, entscheidet sich der überzeugte Nicht-Zionist Shapiro, zusammen mit seiner Ehefrau und den Söhnen nach Palästina auszureisen. Nachdem das Flugzeug bereits abgehoben ist, zwingt er den Kapitän zur Umkehr und stößt dabei nicht allein bei seiner Familie auf Unverständnis, sondern auch beim Leser.

In der Fortsetzung „Das schwarze Königreich“ wird sein wahrer Beweggrund zur Rückkehr enthüllt: Nicht sein Ansehen oder seine Macht waren es, sondern seine Liebe zu Warschau. Auch wenn es inhaltlich an „Der Boxer“ anknüpft, läßt es sich problemlos eigenständig lesen.

Mit seinem Erzählstil entwirft Twardoch eine an Noir-Filme erinnernde Atmosphäre. Nichts ist mehr übrig von der Aktion à la Quentin Tarantino wie in „Der Boxer“. Man erfährt, was aus dem Paten Shapiro und seinem Umfeld in den Jahren von 1939 bis 1944 wurde. Beim Einmarsch der Wehrmacht meldet er sich enthusiastisch zur polnischen Armee und läßt sich gar eigens dafür eine grüne Felduniform schneidern. Doch die Niederlage läßt nicht lange auf sich warten, und das Königreich des Paten zerfällt endgültig zu Staub. Zuerst wird er aus seiner Villa geworfen und muß mit seiner Frau Emilia und den Söhnen David und Daniel ins Warschauer Ghetto ziehen. Dort mußten sich ab Ende 1940 etwa 400.000 Menschen den Platz von weniger als drei Quadratkilometern teilen. Shapiro könnte zum Paten des Ghettos werden, doch der Umstand, daß jeder Deutsche ihn jederzeit erschießen könnte, nimmt ihm den Antrieb.

Um dennoch einen Vorteil für sich und seine Familie herauszuschlagen, meldet er sich zur jüdischen Ghetto-Polizei. Doch dies verzeiht ihm seine Ehefrau Emilia, die ihm bis dahin viele Affären und andere Vergehen durchgehen ließ, nicht. Sie verläßt Jakub; vom einst starken Boxer bleibt nichts mehr übrig. Stattdessen erlebt man einen innerlich gebrochenen Mann, der nur durch die Fürsorge von Ryfka, seiner ehemaligen Geliebten, überlebt. Da sie ihm keine Kinder gebären konnte, verließ er sie für Emilia.

Der Autor spricht auch Tabuthemen an 

Als Erzähler fungieren abwechselnd Ryfka und David, die sich durch das nächtliche und verwüstete Warschau auf der Suche nach Nahrung schlagen. Während Ryfka die Liebe zu Jakub am Leben hält, haßt David seinen Vater abgrundtief. Er verzeiht ihm nicht, daß er zuließ, wie er, seine Mutter und sein Bruder am Warschauer Umschlagplatz in den Zug nach Treblinka einsteigen mußten.

Bis zum Schluß wird nicht aufgeklärt, aus welcher allwissenden Perspektive die beiden erzählen. Das Tempus wechselt zwischen Gegenwart und Vergangenheit, manchmal beides gleich hintereinander. Es wird aus einer Art Jenseits berichtet, was Twardoch das „Hiermals“ im Gegensatz zum „Damals“ nennt. Mit Hilfe dieses erzähltechnischen Tricks kann Twardoch noch weitere Geschichten in seinem Roman erzählen. Wie zum Beispiel die des Ukrainers Miron, der durch Stalins Terror zuerst seinen Hof verliert und dann seine Kinder verhungern sieht, was aus ihm einen Kommunisten- und Judenhasser werden läßt, oder die des schlesischen Deserteurs Jorg Konopka.

Szczepan Twardoch, Jahrgang 1979 und derzeit einer der bekanntesten Schriftsteller Polens, spricht mit „Das schwarze Königreich“ Tabuthemen an: den Antisemitismus der Polen und die Kollaboration sowohl von Polen als auch von Juden mit den Nationalsozialisten. Ob der deutsch-polnische Literaturkritiker Marcel Reich-Ranicki, der selbst das Warschauer Ghetto überlebte, an der Figur des Jakob Shapiro Gefallen gefunden hätte, wird man nicht erfahren, aber Twardochs authentischem Erzählstil hätte er bestimmt Respekt gezollt.

Szczepan Twardoch: Das schwarze Königreich. Roman. Aus dem Polnischen von Olaf Kühl. Rowohlt Berlin Verlag, Berlin 2020, gebunden, 416 Seiten, 24 Euro