© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 13/21 / 26. März 2021

Um Aufmerksamkeit kämpfen
Identitätspolitik: Die Fragmentierung moderner Gesellschaften schreitet voran
Felix Dirsch

Wer die heftigen identitätspolitischen Ergüsse aus jüngster Zeit zur Kenntnis nimmt, könnte meinen, die entsprechenden Erscheinungen seien neu. Diese Annahme ist jedoch ein Irrtum. Vielmehr liegen Anstöße zu aktuellen Kontroversen im 19. Jahrhundert.

Der Philosoph Hegel rekonstruiert den neuzeitlichen Emanzipationsprozeß, den er nicht als solchen bezeichnet, als „Kampf um Anerkennung“: Der Einzelne lernt in einem Institutionengefüge (Familie, Gesellschaft und Staat), welche Facetten am Anderen wertzuschätzen sind. Diese Trias muß natürlich vernunftgemäß organisiert sein, damit sich eine wechselseitige Anerkennung der Mitglieder ergeben kann. Dieses interaktive Zugeständnis ist eine wesentliche Voraussetzung für das gemeinschaftliche Zusammenleben. Anerkennung verbürgt demnach Freiheitsbewußtsein. 

Im institutionellen Rahmen sieht Hegel jedoch stets auch die Gefahr, daß im normativen Rahmen den beteiligten Subjekten unterschiedlich gewichtete Eigenschaften zugebilligt werden. Ein Ergebnis dieser asymmetrischen Anerkennungsweisen sind Konflikte. Der Verfasser der „Phänomenologie des Geistes“ verdeutlicht diese Auseinandersetzung an berühmter Stelle im Kapitel „Herr und Knecht“. Beide können sich ihr Selbstsein reziprok nicht bekräftigen, weil es die gesellschaftlichen Vorgaben nicht erlauben. Letztlich führt die dialektische List zur Aufwertung des Knechts.

Das Bürgertum schuf ein Gegengewicht 

Hegels Bedürfnis nach Anerkennung verdankt sich dem geistigen Drang, sich als vernünftiges Wesen zu verwirklichen. Sein Denken ist wie dasjenige Kants oder Rousseaus nicht ohne den Universalismus der Aufklärungsphilosophie zu verstehen. An deren Horizont konstituiert sich das Phänomen der Öffentlichkeit. Fundiert auf dem gesprochenen und geschriebenen Wort, gelingt es einer immer einflußreicheren Schicht, dem Bürgertum, ein Gegengewicht zur ständischen Hierarchie zu schaffen. Offenkundig ist dieser Trend vor allem in bestimmten Kommunitäten: Salons, Lesegesellschaften, Kaffeehäusern, kurzum: in vielen Intellektuellen- und Literatenzirkeln, denen um 1800 mitunter sogar Frauen vorstanden. Jürgen Habermas rekonstruierte in seiner Schrift „Strukturwandel der Öffentlichkeit“ die nachwirkenden universalistischen Grundimpulse.

Im Kontrast zu dieser idealtypischen Betrachtung kristallisieren sich die sozialen Bruchlinien im 19. Jahrhundert klar heraus: zwischen Kapital und Arbeit; Säkularismus sowie Naturalismus auf der einen und religiösem Bekenntnis auf der anderen Seite; technischem Fortschritt und überliefertem politischen Regiment. Max Weber nahm einen „Polytheismus der Werte“ wahr. Die weltanschaulichen Milieus ließen einen starken Trend zur Abkapselung erkennen. Konfession und Ideologie fungierten noch bis etwa Mitte des 20. Jahrhunderts als (tendenziell abnehmendes) Konfliktpotential.

Spätestens in den 1960er Jahren machten sich überall in der westlichen Welt weitreichende Emanzipationsschübe bemerkbar. Hintergrund ist vornehmlich der Trend zum Individualismus und zur Überwindung tradierter Rollenbilder im Zuge eines wachsenden Wohlstandes. In den USA sind es vor allem die Farbigen, hierzulande anfänglich vor allem Frauen, die auf soziale Neupositionierung drängen, später andere, über längere Zeiträume marginalisierte Randgruppen wie Homosexuelle, die inzwischen längst die geschlechterpolitische Agenda dominieren.

Die nachhaltige Pluralisierung verstärkte sich zusätzlich infolge wachsender Zuwanderung. Postmoderne Theoriekonstruktionen wurden von Universitäten und Feuilleton-Stuben verbreitet und in politischen Programmen wie Quotenregelungen umgesetzt. Postmodern meint sowohl die Postulierung als auch die Diagnose der Aufweichung und Relativierung sämtlicher Zusammenhänge des Daseins. Feste Wahrheitsfundamente kann es demnach nicht geben.

Weiter formulierte der in den 1980er Jahren an Wirkmacht gewonnene Kommunitarismus, etwa in Person des kanadischen Philosophen Charles Taylor, viel rezipierte Entwürfe zur Verteidigung des Multikulturalismus. Nicht zu unterschätzen ist zudem die Privilegierung selbststilisierter Opfergruppen im Sinne einer „Läuterungsagenda“, denen Tätergruppen wie heterosexuelle Männer und Rassisten gegenübergestellt werden. Multikulturalismus ist in nicht geringem Maß Folge der „Politik der Schuld“ (Paul Gottfried).

Die Vertreter identitätspolitischer Konzeptionen – man denke an Feministinnen wie Margarete Stokowski und Sophie Passmann – stellen Charakteristika fest, die die Ursache von Diskriminierung darstellen. Die Forderung einer Veränderung solcher Merkmale ist naheliegend. Diese können ethnischer, nationaler, sexueller und geschlechtlicher Art sein. Gleichzeitig geht es nicht wenigen Repräsentanten dieser Richtung um eine Aufwertung des subjektiven Empfindens der Betroffenen. Biologische Vorgaben sind nach Maßgabe vieler Genderisten zu dekonstruieren.

Nun liegt mittlerweile eine umfangreiche Literatur vor, die auf die verheerenden Auswirkungen identitätspolitischer Fokussierung auf Staat und Gesellschaft aufmerksam macht. Danach verliert Identitätspolitik das Gemeinwohl aus den Augen, die Allgemeinheit zerfasert zunehmend.

Umschwung des Pendels auf die andere Seite

Dies ist aus politischen Gründen öfter gewollt. Inzwischen wird sogar heftig darüber diskutiert, ob ein weißer Mann überhaupt das Gedicht „The Hill We Climb“ der jungen farbigen Poetin Amanda Gorman übersetzen darf, das sie anläßlich der Amtseinführung des neugewählten US-Präsidenten Joe Biden vorgetragen hat.

Ein Rückblick auf die #MeToo-Kontroverse und deren Oberflächlichkeiten, über die man in vielen Fällen nur den Kopf schütteln kann, belegt die Richtigkeit einer Aussage des Berliner Dramaturgen Bernd Stegemann. Dieser verweist angesichts existentieller sozialer wie ökologischer Probleme auf das „Dilemma der Aufmerksamkeitsökonomie“. Sie sei ein knappes Gut.

Die unlängst erschienene Studie „Die Öffentlichkeit und ihre Feinde“ des unorthodoxen linken Autors verschweigt auch die aus seiner Perspektive unheilvolle Dialektik von Partikular- und Nationalidentitäten nicht. Ähnlich wie Francis Fukuyama in seiner Abhandlung „Identität“ deutet Stegemann den Populismus als Umschwung des identitätspolitischen Pendels auf die andere Seite. Diese Bewegung will den medial und politisch Ausgegrenzten, nicht zuletzt den weißen Arbeitern, eine Stimme geben. Klar benennt er die Zersetzung der Öffentlichkeit durch Politische Korrektheit, Cancel Culture und „woke“ Empörungsrituale. Um die Ausweglosigkeit der Lage zu charakterisieren, scheut er nicht davor zurück, auf ein bekanntes Heidegger-Zitat zu rekurrieren: Nur noch „ein Gott“ vermöge uns zu retten – eine Hoffnung, die er freilich umgehend als unrealistisch verwirft.

Bernd Stegemann: Die Öffentlichkeit und ihre Feinde. Klett-Cotta, Stuttgart 2021, gebunden, 384 Seiten, 22 Euro