© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 13/21 / 26. März 2021

Vertrauen in die fürsorgliche Obrigkeit
Wertegemeinschaft: Die „Zivilgesellschaft“ treibt die totale Politisierung voran / Eingriffe in bürgerliche Freiheitsrechte
Eberhard Straub

Die Möglichkeiten des Menschen, Macht über Menschen auszuüben, sind unerschöpflich. Die technischen Mittel, Bürger zu erfassen, zu kontrollieren, zu bevormunden, zu lenken und zu reglementieren, haben mittlerweile jede auffällige Grobheit verloren. Eingriffe in ihre Freiheitsrechte, die zu schützen der Staat verpflichtet war, hielten liberale Bürger einst für das schlimmste aller denkbaren Übel.

Der Bürger als soziale Gestalt mit seiner akademischen Kultur und sittlichen Lebensart ist aus dem öffentlichen Leben verschwunden und wird nicht weiter vermißt. Wichtiger als anspruchsvolle bürgerliche Freiheiten ist das Bedürfnis nach Sicherheit geworden, vor Risiken und Nebenfolgen, die den Lebensgenuß mindern könnten, bewahrt zu werden. Die liberale Furcht, daß der Staat, der die Grenzen seiner Wirksamkeit überschreitet, ein Ungeheuer wird, wich einem nahezu grenzenlosen Vertrauen in die fürsorgliche Obrigkeit, die umsichtig bemüht ist, die Lebensqualität aller in der Solidargemeinschaft zu erhalten oder gar zu steigern.

Der Staat wird unter solchen Voraussetzungen nicht so sehr als politische Einrichtung geschätzt, sondern als Versicherungsanstalt. Das ist nicht weiter verwunderlich. Denn der Staat hat das Monopol, zu bestimmen, was politisch und unpolitisch ist, längst verloren. Parteien, Stiftungen, NGOs, die Medien, Akademien, Gremien und zahllose weitere Gruppierungen sehen es als ihre Aufgabe an, im Wettbewerb oder gemeinsam, „das Politische“ mit ihren konkreten Absichten und Programmen zu präzisieren, also mit Inhalten zu füllen. Sie alle versuchen als indirekte Gewalten auf verschiedenste Weise, staatliche Einrichtungen zu durchdringen, sie von sich abhängig zu machen und als systemrelevant privilegiert zu werden. Der neutrale Staat, der bürgerliche und liberale Rechtsstaat, ist darüber zur bloßen Idee geworden, auf die freilich keiner verzichten mag. Jeder beteuert, wie sehr es gerade auf die Stimme seiner Organisation ankommt, die gewissenhaft darüber wacht, daß die Bundesrepublik nicht auf Abwege gerate und deshalb ganz besondere Aufmerksamkeit verdient! Das „öffentliche Leben“ bedarf schließlich der wachsamen, von brennender Sorge erfüllten Mahner, die genau hinsehen und nicht leichtfertig wegschauen. Auf sie ist die „Zivilgesellschaft“ dringend angewiesen.

Alles läßt sich politisieren. Vor allem in Demokratien. Sie verfolgen das Ziel, die Trennung von Staat und Gesellschaft aufzuheben. Auf ihr beruhte freilich der liberale Rechtsstaat. Verschwindet dieser Unterschied, dann wird es für den Staat immer schwieriger, sich frei von den politisch argumentierenden Abenteurern im sozialen Leben zu halten, zumal wenn Bildung mittlerweile ausschließlich als politische begriffen und unpolitisches Verhalten als verantwortungslos gebrandmarkt wird.

Der freie Staat war um der Freiheit willen eingerichtet worden und deshalb auf freie Institutionen angewiesen, auf die freie Kirche, die freie Universität, wie überhaupt auf freie Bildungsanstalten jeder Art. Eine das gesamte Leben umfassende Politisierung widersprach der Bürgerlichkeit und ihrer Idee vom Staat, dem es verwehrt ist, überall nach seinem Gutdünken zu intervenieren. Hält er sich nicht an diesen Rahmen, dann wandelt er sich unvermeidlich nach und nach in eine Despotie. Davon handelten ausgiebig antike Philosophen und Historiker. Diese warnten Demokraten vor der totalen Politisierung, die unweigerlich die Freiheit einschüchtere, lähme und endlich ersticke.

Werte müssen geglaubt werden 

Es ist nicht der totale Staat, der die Freiheit bedroht, es ist die immer bewegte Gesellschaft, aus der die Mächte aufsteigen, die den Staat um seinen Status, um seine Ruhe und seine Fähigkeit bringen, sich als neutraler Sachwalter des allgemeinen Wohls zu bewähren, weil unabhängig vom Lärm der jeweiligen, aufgeregten Zeitströmungen. Die sogenannte „Zivilgesellschaft“ treibt die totale Politisierung heute stürmisch voran.

Ein großer Kenner der Antike und bedeutender Kulturhistoriker, der Schweizer Jacob Burckhardt, hat solche Entwicklungen schon um 1873 beschrieben. Während der Französischen Revolution waren es die radikalen Jakobiner, die erstmals aufgrund totaler Politisierung eine totale Demokratie mit ihrer Schreckensherrschaft 1793/94 ermöglichten. Eine Partei, eine gesellschaftliche Bewegung, hatte sich des Staates bemächtigt und eine totale Herrschaft vorübergehend eingerichtet. Dies Beispiel blieb unvergessen, weil im Durcheinander des sozialen Lebens energische Elemente beispielhaft veranschaulichten, wie man es anstellen muß, um an die Macht zu gelangen und mit ihr die Zukunft den eigenen Wünschbarkeiten zu unterwerfen.

Die Grenzen zwischen den Aufgaben von Staat und Gesellschaft ließen sich aufheben. Dazu bedurfte es nicht unbedingt des Terrorismus. Eine elegantere Lösung war es, man „oktroyiert dem Staat in sein täglich wachsendes Pflichtenheft schlechtweg alles, wovon man weiß oder ahnt, daß es die Gesellschaft nicht tun werde. Überall steigen die Bedürfnisse und die dazu passenden Theorien“, sagt Burckhardt. Der Staat als Ausdruck parteilicher Kulturideen soll „alles mögliche können, aber nichts mehr dürfen“, was es unausweichlich macht, unbedingt an seiner Machtausübung teilzuhaben und in den Besitz staatlicher Mittel zu gelangen, um mit deren Gebrauch Ziele zu erreichen, die ohne sie ein „bloßes Narrenspiel der Hoffnung“ geblieben wären.

Die Aktivisten in der „Zivilgesellschaft“ reden kaum vom Staat oder gar von der Staatsmacht. Sie beschwören die vage Idee der Demokratie, aber nicht etwa die konkrete Republik. Vor allem berufen sie sich auf die Wertegemeinschaft und die Werte, die Staat und Recht offenbar erst eine besondere Würde verleihen. Werte müssen geglaubt und dem Glauben an sie muß widerspruchsfreie  Geltung verschafft werden. Sie erlauben keine Neutralität.

Damit verschwindet eine der heilsamsten Errungenschaften der Staatlichkeit und des Rechtsstaates, die überhaupt erst ein gedeihliches Zusammenleben erlaubte. Politiker und Politesse – Begriffe, die erst in den Bürgerkriegen seit dem 16. Jahrhundert aufkamen – meinten, höflich Distanz zu wahren gegenüber Leidenschaften und unduldsamem Fundamentalismus. Sich politisch zu verhalten, bedeutete damals, sich frei zu halten von Parteien und deren Gesinnung, allein bedacht auf das, was alle angeht, nämlich den inneren Frieden trotz unterschiedlicher politischer, religiöser oder künstlerischer Bekenntnisse. Damit ist es vorbei.

Die totale Politisierung denkt heute an Homogenisierung. Denn eine Wertegemeinschaft setzt Übereinstimmung voraus. Sie muß unter Umständen erzwungen werden, damit nicht abweichende Unholde – wie ein böser Virus – die kollektive Gesundheit gefährden. Die totale Politisierung kämpft gegen jede Regung eines partikularen Interesses und des verderblichen Gruppen-egoismus. Der Imperativ lautet immer: Impfen! Impfen! Impfen!

Mit ihm rechnete 1933 auch der Theoretiker des totalen Staates, Ernst Forsthoff, der „eine totale Gemeinschaftsgesinnung, das Bewußtsein einer totalen Verantwortung“ für unabdingbar hielt. Einer für alle und alle für einen, das ist das Lebensgesetz einer Verantwortungs- und Gesinnungsgemeinschaft und ihres sinnvollen Funktionierens in überzeugender Form, achtzig Jahre vor Corona. Ernst Forsthoff wehrte sich allerdings im Namen des totalen Staates, der als starker Staat staatsfreie Räume anerkennen muß, gegen die totale Politisierung und Parteilichkeit. Ohne diese kann eine totale Wertegemeinschaft, die den ganzen Menschen erfassen will, allerdings gar nicht mehr auskommen.

Dauernder Kampf gegen Rechts

Auch Grundrechte dürfen ihr dabei nicht im Wege stehen. Ja, verbriefte Rechte können durchaus in den Verdacht geraten, nicht mit den Werten vereinbar zu sein, weil sie und der Rechtsstaat sich als kraftlos erwiesen hatten, den Faschismus und den Nationalsozialismus zu verhindern. Die totale Politisierung aller menschlichen Tätigkeiten, Gefühle und Gedanken, seiner innersten Regungen, die sein Wollen beeinflussen, darf daher nicht vernachlässigt werden. Sie ist dringend erforderlich für eine Wertegemeinschaft, die sich durch dauernden Antifaschismus legitimiert.

Diese politische Ideologie fordert dazu auf, auch ohne Rücksicht auf das Recht aktiv zu werden gegenüber jedem, der sich angeblich von ihren Werten entfernt. Wer in diesen Verdacht gerät, läuft Gefahr, sofort als Rechter angegriffen und nicht wie ein gleichberechtigter Staatsbürger behandelt zu werden. Denn die total politisierte Wertegemeinschaft kennt Feinde und nennt sie beim Namen. Der Feind steht rechts!

Wer entlarvt worden ist, „unsere Werte“ nicht zu teilen, verdient Abscheu und verwirkt als politisch Unzuverlässiger und erklärter Feind jeden Anspruch darauf, daß die „Zivilgesellschaft“ im Umgang mit ihm auf zivile Formen und auf Höflichkeit achtet. Wertvolle Menschenfreunde versichern ununterbrochen, keine Feinde zu kennen, müssen  aber dennoch ununterbrochen Krieg führen, weil „Faschisten“ und „Nazis“, immer und überall, verborgen hinter vielen Masken, ihr Unwesen treiben.

Auch der Kampf gegen das Coronavirus reiht sich mit anderen Mitteln in die Folge der Feldzüge gegen Rechte ein, gegen „Coronaleugner“ und „Querdenker“, die vorgeblich beständig unsere geistige wie körperliche Gesundheit angreifen. Eine vorwiegend medizinische Angelegenheit ist heillos, eben total politisiert worden!

Vor einigen Jahren hieß es noch, daß  in unserer Wertegemeinschaft alle mit offenem Gesicht einander begegnen. Jetzt heißt es, nur wer sich maskiert und Abstand wahrt, verhält sich wertvoll, verantwortungsvoll und bestätigt damit, im großen „Wir“ aufgegangen zu sein. In dieser durch und durch politisch verseuchten Zeit wird Gottfried Benns Rat wieder sehr bedenkenswert: „Verhülle dich mit Masken und mit Schminken, / auch blinzle wie gestörten Augenlichts, / lass nie erblicken, wie dein Sein und Sinken/ sich abhebt von dem Rund des Angesichts“. Sonst könnte die Wertegemeinschaft dich beobachten und verdächtigen, nicht nur ihr Feind, sondern der des Menschengeschlechts zu sein.






Dr. Eberhard Straub, Jahrgang 1940, ist habilitierter Historiker, Publizist und Buchautor.