© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 13/21 / 26. März 2021

Wiederaufbaufonds: Die Hüter der Rechtsstaatlichkeit brechen die Verträge
Auf nach Karlsruhe!
Ravel Meeth

Wer daran zweifelt, ob die EU für drängende Zukunftsaufgaben befähigt ist, wird sich durch das Chaos um die Impfstoffbestellung bestätigt sehen: Es ist peinlich und verstörend, wie dilettantisch die EU-Kommission verhandelt hat, in welcher Langsamkeit Entscheidungen getroffen und umgesetzt werden und wie kläglich die Kommunikation mit den nationalen Ebenen und vor allem der Öffentlichkeit gestaltet wird.

Während die USA und das Vereinigte Königreich schon im Frühjahr und Sommer Impfstoffe in ausreichenden Mengen bestellt haben, nahm sich die überforderte EU-Kommission bis in die zweite Corona-Welle im Herbst Zeit, die Verträge zu unterzeichnen. Die europäischen Spitzenpolitiker mokierten sich wohlfeil über die dysfunktionale Trump-Administration und sahen Großbritannien nach dem Brexit schon in die Drittklassigkeit absteigen, aber tatsächlich ist es die EU selbst, die dysfunktional und drittklassig agiert.

Das läßt wenig Gutes ahnen für das noch größere und komplexere Projekt, das nun ansteht: den EU-Wiederaufbaufonds, im Euro-Neusprech „Next Generation EU“ (NGEU) genannt. Dieser sieht vor, europäische Anleihen von insgesamt 750 Milliarden Euro an den Kapitalmärkten zu plazieren. Davon sollen 500 Milliarden Euro als nicht rückzahlbare Zuschüsse und weitere 250 Milliarden Euro als Darlehen an die von der Corona-Krise am meisten betroffenen Staaten ausgezahlt werden.

Die notwendigen Werbeflaggen dazu hängen schon am Berlaymont, dem imposanten Hauptsitz der EU-Kommission in Brüssel: Gezeigt wird unter anderem eine junge Frau vor Reagenzgläsern, die offensichtlich mit ihrer durch EU-Gelder geförderten Forschung das wirtschaftliche Fundament der Zukunft legt. Schöne, neue Welt. Dabei wird der Wiederaufbaufonds vor allem erst mal teuer, und zwar für Deutschland und die nordeuropäischen Nettozahler.

Und er wird eine finanzielle Bürde für die nächsten Jahrzehnte, denn die Schulden werden ab jetzt bei der EU aufgetürmt und sollen dann über Jahrzehnte abgetragen werden, geplant bis 2058! Der NGEU wurde im vergangenen Sommer von Angela Merkel und Emmanuel Macron dekretiert und mit maximalem Druck gegen den Widerstand insbesondere der kleineren Nettozahlerländer durchgesetzt, unter maximaler Bemühung des moralischen Kampfbegriffs der „Solidarität“.

Nun ist natürlich die Notwendigkeit der Hilfe in einem bestimmten Maß angesichts der schweren wirtschaftlichen Verwerfungen in den besonders vom neuartigen Coronavirus betroffenen Ländern nicht in Abrede zu stellen. Schaut man sich jedoch die von der EU-Kommission entwickelte Formel zur Berechnung der Hilfszahlungen an, so stellt man fest, daß der Wirtschaftseinbruch des Jahres 2020 nur eine von mehreren Variablen ist. Zu Hilfe genommen wird ebenso die durchschnittliche Arbeitslosigkeit der Jahre 2015 bis 2019, also eine wirtschaftliche Kennzahl, deren Höhe weniger mit Corona als vielmehr mit jahrzehntelang verschleppten Reformen in den betroffenen Ländern zu tun hat.

Mit „Next Generation EU“ steigen wir in eine neue Zeit und eine neue, vertragswidrige Haushalts- und Finanzarchitektur der EU ein: Denn die EU ist nach den Europäischen Verträgen verpflichtet, ihren Haushalt „vollständig aus Eigenmitteln“ zu finanzieren. 

Die Verteilungsformeln entblößen die Fassade und enthüllen die Profanität des beabsichtigten Vermögenstransfers. EU-Kommission und Europäischer Rat nutzen die Corona-Krise, um einen enormen Transferkanal vom Norden in den Süden zu eröffnen. Und es ist mit trauriger Gewißheit zu erwarten, daß der NGEU langfristig als europäischer Umverteilungsfonds zementiert werden wird. Die laut vorgetragene Vokabel „vorübergehend“ ist bei einer Laufzeit von 38 Jahren blanker Hohn.

Die finanziellen Gewinner sind Italien und Spanien, genauer: die politischen Eliten dieser beiden Länder. Denn der „Wiederaufbaufonds“ gestattet es ihnen, auch in Zukunft zwei politische Maßnahmen zurückzustellen: erstens die wirksame Besteuerung der vorhandenen, großen Privatvermögen sowie zweitens die Reformen des Arbeitsmarktes und des Rentensystems. Nach den aktuellsten Zahlen der Credit Suisse sowie der EZB liegen die Vermögen der Privathaushalte dieser beiden Länder weit über den deutschen Vermögen. Man kann diese Zusammenhänge auf die griffige Formel bringen, daß in Süd­europa privater Reichtum und öffentliche Armut herrschen, während es in Deutschland umgekehrt ist.

Die durchschnittliche Steuerbelastung auf Einkommen ist in Italien mit rund 32 Prozent deutlich geringer als in Deutschland mit rund 40 Prozent. Ein Beispiel: Die Erbschaftsteuer liegt in Italien bei homöopathischen vier Prozent, mit einem großzügigen Freibetrag von einer Million Euro. Und da der deutsche Fiskus zudem bei den Steuerpflichten seiner Bürger weitaus durchsetzungsorientierter agiert als sein italienisches Pendant, ist der Weg der innereuropäischen Umverteilung der einfachste Weg für Italiens Parteien, um nicht an der Wahlurne abgestraft zu werden.

Auch wird das Geld aller Voraussicht nach dazu verwendet werden, die notwendige Anpassung der Rentensysteme hinauszuschieben: In Italien und Spanien liegen sowohl die Rentenbezugsdauer als auch die Rentenhöhe im Vergleich zum Nettoeinkommen signifikant höher als in Deutschland. In Spanien hat die sozialistische Regierung im Sommer 2020 in Erwartung des zu erwartenden Geldregens aus Brüssel zudem ein Grundeinkommen eingeführt.

So steigen wir mit „Next Generation EU“ in eine neue Zeit und eine neue, vertragswidrige Haushalts- und Finanzarchitektur der EU ein: Denn die EU ist nach den Europäischen Verträgen verpflichtet, ihren Haushalt „vollständig aus Eigenmitteln“ zu finanzieren (Artikel 311 AEUV), zur Finanzierung ihrer Ausgaben ist demnach nach herrschender juristischer Lehre die Aufnahme eigener Schulden verboten. Denn Schulden sind keine Eigenmittel, sie sind Fremdkapital. Das heutige Vorgehen steht daher auch in unmittelbarem Widerspruch zur Antwort, die die EU-Kommission am 3. Juni 2015 auf die Anfrage eines Europaparlamentariers gab: „Was die Verpflichtung zum Ausgleich des EU-Haushalts anbelangt, so lautet die übereinstimmende Auslegung dieses Artikels im Laufe der Zeit, daß der EU-Haushalt nicht durch die Ausgabe von Staatsschulden ausgeglichen werden kann.“

Nach den Europäischen Verträgen erfolgt die Finanzierung des EU-Haushalts vielmehr ausschließlich durch Mittel der Mitgliedsländer, die einen Anteil ihres Bruttonationaleinkommens (BNE) an die EU abführen. Aber eine weitere nationale Schuldenaufnahme zur Erhöhung der Mitgliedsbeiträge will die Kommission den hochverschuldeten südeuropäischen Mitgliedsländern nicht zumuten.

Gegen den Rechtsbruch ist eine Verfassungsbeschwerde in Vorbereitung, die unmittelbar nach dem Beschluß des Bundestages erhoben wird. Denn für den Eigenmittelbeschluß des Europäischen Rates gibt es keine Ermächtigung im Unionsrecht. 

Daher soll nun im Rahmen eines neuen Eigenmittelbeschlusses, den der Deutsche Bundestag in Kürze ratifizieren wird, der EU – vertragswidrig – erlaubt werden, eigene Schulden durch die Emission von Anleihen aufzunehmen. Für Verzinsung und Tilgung der Schulden muß der EU-Haushalt und damit natürlich die Gemeinschaft der Mitgliedsländer geradestehen. Freilich haftet damit durch die gesamtschuldnerische Verantwortung auch jedes einzelne Land für sämtliche Schulden. Damit sind dies de facto genau jene Euro-Bonds, gegen die sich Angela Merkel und die CDU angeblich immer gewehrt haben. Sollten andere Mitgliedstaaten in Zahlungsausfall geraten oder die EU verlassen, so würden sich die Zahlungsverpflichtungen Deutschlands erheblich erhöhen.

Das ist der Einstieg in die Europäische Transfer- und Fiskalunion. 750 Milliarden Euro werden dann verteilt werden können. Ob es irgendwelche Konzepte gibt, wie dieses Geld sinnvoll auszugeben ist? Wer danach fragt, kann vermutlich ebenso gut verlangen, daß die EU mal ihre Verträge mit den Impfstoffherstellern offenlegt.

Der Eigenmittelbeschluß als einnahmeseitige Grundlage des EU-Wiederaufbaufonds befindet sich aktuell zur Beratung im Bundestag und wird voraussichtlich am 25. März beschlossen, anschließend zur Ratifizierung an den Bundespräsidenten weitergeleitet. Bei der kürzlich erfolgten ersten Lesung des Gesetzes im Bundestag äußerte sich der Bundesfinanzminister nicht etwa kritisch zum Vertragsbruch und zu der Tatsache, daß durch die Verschuldung des EU-Haushalts die von Deutschland lange abgelehnte Haftungsunion der Mitgliedsstaaten geschaffen wird, sondern bejubelt dies geradezu: „Es ist der Weg in die Fiskalunion, und es ist ein guter Weg für Europas Zukunft.“ Wieder einmal vertreten das Parlament und die Regierung nicht die Interessen der deutschen Steuerzahler, sondern verpflichten unter dem Vorwand der pro-europäischen Solidarität die nächsten Generationen auf den Schuldendienst. Kredite, die nicht eingesetzt werden, um zukunftsorientierte Investitionen zu tätigen, sondern um die Besteuerung hoher Vermögen und drängende Reformen der südeuropäischen Rentensysteme zu vernachlässigen.

Gegen diesen eklatanten Rechtsbruch ist aktuell eine Verfassungsbeschwerde in Vorbereitung, die unmittelbar nach dem Beschluß des Bundestages erhoben werden wird. Materiell richtet sich die Beschwerde gegen den Eigenmittelbeschluß des Europäischen Rates, für den es keine Ermächtigung im Unionsrecht gibt. Dies ist die „Ultra-vires-Kontrolle“, die sich aus Art. 38 Abs. 1, Art. 23 Abs. 1 und 2 sowie aus Art. 79 Abs. 3 des Grundgesetzes ableitet. Zweitens machen die Kläger geltend, daß der Eigenmittelbeschluß die haushaltspolitische Gesamtverantwortung des Bundestages beeinträchtigt – dies ist die sogenannte Verfassungsidentitätkontrolle. Die Verfassungsbeschwerde wird geführt von einer Gruppe von Hochschullehrern, überwiegend Professoren für Volkswirtschaftslehre oder Betriebswirtschaftslehre. Zudem haben sich schon weitere 2.000 Bürger der beabsichtigten Beschwerde angeschlossen, und es werden täglich mehr.






Ravel Meeth, Jahrgang 1979, ist Vorsitzender des gemeinnützigen Vereins Bündnis Bürgerwille e. V., eines parteiunabhängigen Zusammenschlusses von Bürgern. Das Bündnis Bürgerwille setzt sich unter anderem juristisch für die Wahrung rechtsstaatlicher und demokratischer Grundsätze in Deutschland und der EU ein. Für weitere Informationen zur beabsichtigten Verfassungsbeschwerde:

 www.buendnis-buergerwille.de

Foto: EU-Wiederaufbaufonds, im Euro-Neusprech „Next Generation EU“ (NGEU) genannt: Die De-facto-Eurobonds werden ein Füllhorn für den europäischen Süden – wenn sie nicht noch gestoppt werden