© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 13/21 / 26. März 2021

Auftragsforschung im großen Stil
Das Kieler Institut für Weltwirtschaft: Eine Fallstudie zu Wissenschaft und Politikberatung
Wolfgang Müller

Die Impfung mit Astrazeneca auszusetzen, so begründete Bundesgesundheitsminister Jens Spahn (CDU) kürzlich diese Maßnahme, sei keine politische Entscheidung gewesen, sondern die alternativlose Umsetzung wissenschaftlicher Expertise. Diese Erklärung fügt sich ein in eine endlose Kette von Verlautbarungen, in denen sich die Regierenden seit März 2020 gerieren, als seien sie Marionetten von Virologen. Eindrücklicher als im ersten Jahr der Corona-Pandemie scheint einer breiten Öffentlichkeit also noch nie der Einfluß von Wissenschaftlern auf Politiker vor Augen geführt worden.

Doch schon ein flüchtiger Blick zurück zeigt, daß die Symbiose von Politik und Wissenschaft in modernen Industriegesellschaften eine Normalität ist, die sich allerdings nur in Ausnahmezuständen offenbart. Etwa im August 1945, als zwei Atombombenabwürfe über Hiroshima und Nagasaki vom grausig erfolgreichen Abschluß des „Manhattan Project“ kündeten, des bis dahin größten Forschungsunternehmens der Weltgeschichte. 

Hingegen schob sich dreißig Jahre zuvor die existentielle Bedeutung von Wissenschaft nicht einmal ansatzweise ins allgemeine Bewußtsein. Denn die Masse der Deutschen erfuhr nichts davon, daß für das Kaiserreich der Erste Weltkrieg schon im Winter 1914/15 mit einer Niederlage geendet hätte, wären die Munitions- und Düngemittelfabriken noch auf chilenischen Salpeter angewiesen gewesen. Dem war nicht so, dank der Ammoniaksynthese, die dem Chemiker Fritz Haber 1909 glückte und die seit 1913 im Haber-Bosch-Verfahren ihre großindustrielle Anwendung fand. Gerade rechtzeitig, um bald darauf den sonst sicheren wirtschaftlichen und militärischen Zusammenbruch in den ersten Kriegsmonaten zu verhindern.

Nach dem Modell der auf naturwissenschaftliche Grundlagenforschung konzentrierten, im „deutschen Oxford“ in Berlin-Dahlem angesiedelten Kaiser-Wilhelm-Institute, von denen Fritz Haber seit 1911 das für Physikalische Chemie leitete, war auch das im Februar 1914 eröffnete Kieler Institut für Seeverkehr und Weltwirtschaft (IW) konzipiert. Und wie die Dahlemer Forscher waren die Ökonomen an der Förde eng mit Politik und Wirtschaft verflochten. Denn Bernhard Harms, Direktor von 1914 bis 1933, wollte mit seinem von der Marine und von allen an überseeisch-kolonialistischer Expansion interessierten Kreisen unterstützten Institut die Mechanismen der ersten Globalisierung erkunden, um dem Deutschen Reich im imperialistischen Wettrennen einen günstigen Platz an der Sonne abzustecken. 

Dafür blieb ihm zwar nur eine kurze Friedenszeit, aber die vier Weltkriegsjahre taten der Umsetzung seiner Pläne keinen Abbruch. Im Gegenteil, sie bescherten dem Institut eine erste Blüteperiode. Das IW bewährte sich für die Reichsleitung mit Expertisen zum letztlich kriegsentscheidenden ökonomischen Potential der Feindstaaten. Harms ermunterte 1916/17 zudem die Admiralität, den uneingeschränkten U-Boot-Krieg zu führen, weil er sich aufgrund der falsch taxierten britischen Wirtschaftskraft sicher war, Deutschland werde das dadurch ausgelöste „Wetthungern“ gewinnen. 

Solche fatalen Lageanalysen schadeten dem Ruf des Instituts nicht, wie Gunnar Take in seiner erstmals alle verfügbaren Quellen ausschöpfenden, die NS-Zeit in den Mittelpunkt rückenden, jedoch die Entwicklung bis 1933 gebührend beachtenden Institutsgeschichte darlegt. Konnten doch die Politiker der Weimarer Republik angesichts gewaltiger, aus der Kriegsniederlage folgenden volkswirtschaftlichen Problemen – Gebietsverluste, Reparationen, Inflation – nicht auf Ratschläge aus Kiel verzichten. Wo Harms, der alte, sich in den Dienst von Gustav Stresemanns Verständigungspolitik stellende Nationalliberale, sein Haus zur größten Fachbibliothek Europas und zur Institution von Weltrang ausbaute. Die im Oktober 1929 anhebende Weltwirtschaftskrise habe, so Take, den Kieler Forschern indes die Grenzen ihres dem „Objektivitätsglauben“ huldigenden Expertentums aufgezeigt. Denn man konnte sich nicht einigen, was dem Reichskanzler Heinrich Brüning zu empfehlen war, verschärftes Sparen im liberalen Vertrauen auf die „Selbstheilungskräfte des Marktes“ oder staatliche Konjunkturankurbelung keynesianischen Zuschnitts?

Die Frage sei mit der NS-Machtübernahme so beantwortet worden, daß das im Frühjahr 1933 brutal von jüdischen und sozialdemokratischen Mitarbeitern „gesäuberte“ IW nur noch „die praktische Umsetzung von Staatseingriffen“ gutachtend begleiten durfte. Was die Harms-Nachfolger, den 1944 als Mitverschwörer des „20. Juli“ hingerichteten Jens Jessen (1933/34) und vor allem Andreas Predöhl (1934–1945), in eine „Auftragsforschung großen Stils“ einspannte, die für das Institut in die von Take detailliert dokumentierte „Vorbereitung von Hitlers Angriffskriegen“ mündete, in die Beteiligung an der „Ausbeutungspolitik des militärisch-industriellen Komplexes“ in Osteuropa sowie im „Einsatz für den Europäischen Großwirtschaftsraum“. 

Zu Recht sieht Take den wichtigsten, freilich nur bedingt originellen Ertrag seiner allzu germanozentrischen, sich Seitenblicke auf ähnliche Denkfabriken in London, Washington oder Moskau leider versagenden Untersuchung darin, am Kieler Beispiel demonstriert zu haben, daß auch die Wirtschaftswissenschaft eine „Weltanschauungswissenschaft“ (Joseph Schumpeter) ist, die in Theorie und Methode stets zeitgebunden bleibe und daher nie nur „objektive“ und politisch neutrale „Wahrheiten“ vermittle.

Gunnar Take: Forschen für den Wirtschaftskrieg. Das Kieler Institut für Weltwirtschaft im Nationalsozialismus, Verlag Walter de Gruyter, Berlin 2019, gebunden, 537 Seiten, 102,95 Euro