© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 13/21 / 26. März 2021

Die Aufarbeitung steht den USA noch bevor
Die Soziologin Susan Neiman lobt Deutschland als Vorbild in der Behandlung historischer Schuld
Thorsten Hinz

Das neue Buch der Philosophin Susan Neiman kommt mit fast 600 Seiten äußerlich schwergewichtig daher. Der Titel „Von den Deutschen lernen“ verblüfft, die Zitate auf dem Schutzumschlag wecken große Erwartungen: Neimans Buch sei „tief durchdacht und scharfsinnig“, meint die traditionsreiche US-Fachzeitschrift Publishers weekly. Die New York Times hält das Werk für „eine starke Waffe“ im Kampf um die Deutung der Geschichte. Der Hanser-Verlag nennt es eine „Aufforderung zum Universalismus“ im Angesicht von AfD und Donald Trump. Das Foto zeigt Neiman in grüner Lederkluft, den Kopf im Halbprofil, das Kinn auf die locker geballte rechte Hand gestützt, den Blick kühn in unerkundete Weiten gerichtet, die ihres Scharfblicks harren – als streitbare politische Denkerin in der Nachfolge Hannah Arendts. Nun denn.

Neiman, 1955 in Atlanta, US-Bundesstaat Georgia, geboren, war als Philosophieprofessorin in Yale und Tel Aviv tätig, ehe sie im Jahr 2000 zur Leiterin des Einstein-Forums in Potsdam berufen wurde. Ihr Buch ist in drei Kapitel unterteilt. Vorangestellt ist ein autobiographischer und zugleich programmatischer Prolog: „Mein Leben begann als das eines weißen Mädchens in den von Rassentrennung gezeichneten Südstaaten. Enden wird es vermutlich als das einer jüdischen Frau in Berlin.“

Im ersten Teil geht es um Deutschland, um seine Haltung zur Vergangenheit – worunter Neiman die NS-Zeit versteht – und ihre Konsequenzen für die Gegenwart. Es ist nicht leicht, den roten Faden zu finden, denn Neimanns Ausführungen sind mehr impressionistisch als analytisch. Sie hält die Wehrmachtsausstellung von 1995, die die deutsche Arme zur Verbrecherorganisation erklärte, für eine bahnbrechende Leistung. Sie schwärmt von den applaudierenden Deutschen, die eine Million Flüchtlinge willkommen hießen, um „den Rassismus ihrer Vorfahren umzukehren“. Andererseits seien Türken und Farbige in Deutschland „zur Zielscheibe des Gifts geworden, das sich einst gegen die Juden richtete“. Die DDR wiederum sei besser als ihr Ruf gewesen. Neimans Gewährsmann, der Schriftsteller Ingo Schulze, weiß nämlich: „Der Antifaschismus ging vom Staate aus, und das war richtig so.“ Schulze? Echt? War das so? – Und so geht es weiter, immer weiter.

Der zweite Teil handelt vornehmlich vom Rassismus in den Südstaaten der USA, wo die Rassentrennung bis in die 1960er Jahre offiziell andauerte. Neiman schildert rassistisch motivierte Verbrechen von exzessiver Grausamkeit. Hier wäre eine historisch-psychologische Vertiefung angebracht gewesen, die auch die „weiße“ Perspektive in den Blick nimmt. So richtig und wichtig die Abschaffung der Sklaverei war, so fatal war der Umgang mit dem im Sezessionskrieg 1861/65 besiegten Süden. General William T. Sherman, Feldherr des Atlanta-Feldzugs der Nordstaaten, erklärte rückblickend: „Mein Ziel war es, die Rebellen zu strafen, ihren Stolz zu demütigen, sie in ihren geheimsten Schlupfwinkeln aufzustöbern und überall Furcht und Schrecken zu verbreiten.“  Zielgerichtet wurden die Lebensgrundlagen der „feindlichen Bevölkerung“ vernichtet. Im Roman „Vom Winde verweht“ ist über Georgia und Atlanta zu lesen: „Überall hatten die Befehlshaber der Truppen vollkommene Macht über die bürgerliche Bevölkerung, auch die Macht über Leben und Tod, und sie machten davon Gebrauch. Sie konnten die Bewohner für jedes Vergehen und auch ohne Vergehen gefangensetzen, ihr Vermögen einziehen und sie aufhängen.“ In welcher Weise diese traumatischen Erfahrungen die aus der Sklaverei befreiten Schwarzen zu Zielscheiben von Aggressionen werden ließ, wäre eine lohnende Frage. Leider hat Neiman sie nicht gestellt.

Entschuldigungen ohne Entschädigungen sind leer

Im dritten Teil lobt sie nochmals die „Unbeirrtheit, mit der Deutschland an der Erinnerung an seine Verbrechen festhält“ und Reparationen zahlt. Die USA hätten diese „spirituelle Erneuerung“ hinsichtlich der „Sklaverei und des rassistischen Terrors“ noch vor sich. Das Vorbild Deutschlands lehrt: „Entschädigungen ohne Entschuldigung sind blind. Doch Entschuldigungen ohne Entschädigungen sind leer.“

Neimans Gesprächspartner und Kronzeugen – darunter Franziska Giffey, Gesine Schwan und Jan-Philipp Reemtsma – erscheinen fast durchweg als großartige Menschen und zeichnen sich dadurch aus, daß sie mit ihr einer Meinung sind. Das Buch ist redundant, moralisierend, inhaltlich leichtgewichtig und erkenntnisfördernd nur insofern, als es Auskunft über den Zustand innerhalb der linksliberalen Meinungsblase gibt. Die zahlreichen sachlichen Fehler und Leerstellen aufzuzählen, kann man sich ersparen. 

Neimans Hannah-Arendt-Geste bleibt ein uneingelöstes Versprechen, eine Anmaßung.

Susan Neiman: Von den Deutschen lernen. Wie Gesellschaften mit dem Bösen in ihrer Geschichte umgehen können. Hanser Verlag, Berlin 2020, gebunden, 575 Seiten, 28 Euro