© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 13/21 / 26. März 2021

Den Berg empor
Eine Skitour zwischen Winter und Frühling: In der Natur werden Entscheidungen konkret erfahrbar
Hermann Rössler

Schneidender Wind, kalte Finger. Berge ringsumher, einer schroffer als der andere. Die Skifelle kleben nicht mehr, Innen- und Außenseite sind vereist. Am Fuß des Südhangs hat die Sonne bereits den Frühling eingeläutet.

Ein warmer Duft steigt aus dem Waldboden; aus den plattgedrückten Laubblättern, die seit dem Herbst da- liegen; aus dem festen Moos, das noch in der Starre des Winters verharrt.

Hier ist mit Skiern nichts zu machen. Der Aufstieg muß zu Fuß erfolgen. Höher und höher in drückendem Schuhwerk, und mit jedem Schritt kommt der sich hier oben hartnäckig haltende Winter näher, als holte die Vergangenheit auf, je schneller du ihr entfliehst.

Weiter oben wartet Schnee, die Bretter eignen sich wieder, um einen festen Tritt zu bekommen. Die erste Schicht ist aufgeweicht – trittst du auf sie, kratzt sie weg, nachgiebig, weich und heimtückisch. Doch der Wind saust, kreist, umdreht sich, umdreht dich. 

Die Berghütte ist von Weiß überdacht, fast überflutet, so daß gerade noch die Eingangstür sich schüchtern zeigt als letzter Zufluchtsort. Die halbe Strecke ist geschafft, das war der leichte Gang. Die Lunge bläht sich auf, die überspannten Muskeln suchen nach Entspannung, und der Berg zeigt stolz seine Brust, sticht spitz seinen Kopf in die Höhe, als wolle er sagen: „An meiner Brust und von meinem Rücken wirst du fallen, was hast du dir gedacht?“ 

Das ist der rechte Zeitpunkt: Ein Schnaps – gewonnen aus den Wurzeln eines Baumes – wärmt die Seele; dafür ist das Getränk gemacht. Es spendet Wärme, Mut und Frohsinn, wo der kalte Stein voller Verachtung die Nichtigkeit der menschlichen Existenz behauptet. Ein Schluck, und weiter geht es aufwärts, der trocknende Schweiß läßt keine Zeit übrig. 

„Sag mal, ist das noch der rechte Weg zum Gipfel?“, fragst du, die Augen nach einer Weile erhebend aus stumpfem Starrsinn. „Weiter unten haben wir die falsche Route eingeschlagen“, antwortet ein Freund. Ein anderer liegt etwas weiter zurück, prustet angestrengt seinen Atem in den Schneeschauer. „Umkehren ist jedenfalls keine Option.“ Ein Grinsen geht um und ist Wegzehrung wie die geteilten Proteinriegel. Das Ziel bleibt dasselbe.

„Auf bald, guter Schrecken, alter Berg“

Widrige Bedingungen fordern die Laune heraus. Ein leichtes ist es, in der Kneipe ein Bier ohne Argwohn zu genießen. Leicht ist es, sich einen Fehltritt zu verzeihen, wenn kein Abgrund das Auge fürchten lehrt. Doch ruht auch das Gemüt, wenn es (Natur-)Gewalt erfährt? In Höhen prüft sich der Geist. Der obige Grat ist erreicht, aber es ist schon spät. Die Sonne ist ein schwaches Licht, verdeckt von Nebel und Wolken. Je steiler es wird und je tiefer das Tal liegt, desto energischer lehnst du dich gegen den Fels und wünschst, der Schnee möge halten. Die letzten Meter am schmalen Grat entlang, Tunnelblick, die Finger sind noch kälter geworden. 

Noch einmal klärt sich der Himmel auf. Endlich steht am Gipfel ein Kreuz, über allem erhaben in den Steinkopf gerammt. Das Stahlkreuz wankt nicht, es steht fest, der Berg ist bezwungen. 

Die Nordseite ist zwar steil und vereist, doch mit den Skiern schlittern wir den Hang hinunter. Ein Lachen: „Auf bald, guter Schrecken, alter Berg.“

Foto: Ein Skitourenläufer beim Aufstieg: Der Mensch prallt auf Naturgewalten und prüft seinen Geist