© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 13/21 / 26. März 2021

Der Flaneur
Erster Spaziergang
Paul Leonhard

Schon nach den ersten hundert Metern Spaziergang merke ich: Die gefütterte Jacke ist zu warm. Auch nehme ich die Mütze ab. Es ist jene Zeit, in der der Frühling noch nicht ausreichend Kraft hat, einem das Herz zu wärmen, und der Winter den kraftlosen mimt, um einen dann mit Unterstützung leichten Windes frösteln zu lassen. Grippewetter, hätte man früher gesagt.

Auch die anderen Passanten sind entweder zu warm oder zu frühlingshaft angezogen, aber kaum einer läßt es sich anmerken. Die Kinder ohnehin nicht. Ein vielleicht Zehnjähriger rennt seinem ferngesteuerten Auto hinterher, als könnte ihm dieses entfliehen. An der roten Ampel steht ein Jogger in kurzen Hosen und japst nach Luft.

Aber es geht nicht um die Bepflanzung, sondern um die Hose des Jungen.

Zwei Rentner haben die Gesichter in die Sonne gestreckt. Um ein Buch herauszuholen, ist es zu kalt. Die verwöhnten Finger schreien nach Handschuhen. Die Brunnen tragen noch ihre Winterverhüllung. Aber in den Vorgärten sprießen schon die Schneeglöckchen. Auf dem Grün des zentralen Platzes spielen kleine Jungs Fußball. Ihre Mütter umrunden derweil mit den noch Kleineren den Platz. Die Kopftuchfrauen werden mißbilligend von unrasierten Männern beobachtet, die vor sich hinschimpfend,auf den Bänken sitzen und immer wieder kleine Flaschen ansetzen.

Zwei arabische Jugendliche korrigieren umständlich die Höhe der Sättel ihrer Mountainbikes. Ein Flaschensammler sortiert seine klirrende Beute des Vormittags, ehe er sich neben einen Hundebesitzer auf die Bank fallen läßt.

„Wenigstens räumt er die Spülmaschine aus“, höre ich eine Frau zu einer anderen sagen. Ist der Ehemann oder der halbwüchsige Sohn gemeint? Ich erfahre es nicht, denn der vielleicht dreijährige Sohn der einen hat sich in das Labyrinth der um den Platz wachsenden Sträucher begeben. Die Mutter ist entsetzt: „Komm sofort raus, du machst alles kaputt.“ Ich denke, sie meint die kunstvolle gärtnerische Bepflanzung, aber als ich mich umdrehe, sehe ich: Es geht um die Kleidung des Jungen. Die Natur weiß sich zu schützen. Sie trägt Dornen.