© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 14/21 / 02. April 2021

„Die Freiheit nicht nehmen lassen“
Droht Ostern, das Fest der Hoffnung, erneut Opfer der Corona-Depression zu werden? Der Benediktiner Notker Wolf, bekannt auch als „der Abt mit der E-Gitarre“ sowie durch seine zahlreichen Bücher und Talkshowauftritte, über Wege aus der Angst und dem Lockdown
Moritz Schwarz

Hochwürdigster Herr Abt, „Schluß mit ... 

Notker Wolf: Oh, nichts für ungut Herr Schwarz, aber den „Hochwürden“ bitte ich Sie, sich zu schenken.

Bekannt als „der Abt mit der E-Gitarre“, der auch schon als Vorgruppe von Deep Purple gespielt hat, sind Sie wohl nicht so für Formalitäten?

Wolf: Nein, dafür habe ich andere Gründe. Und das mit der E-Gitarre ergab sich zufällig, als 1991 im Rahmen der Vorbereitung unseres neuen Schulprojekts „Circus St. Ottilien“ die Ehemaligen-Band „Feedback“ einen Flötisten und Gitarristen suchte.

„Schluß mit der Angst!“ heißt eines Ihrer letzten Bücher. In Zeiten von Corona fragen sich jedoch viele: Wie soll das gehen? 

Wolf: Es gibt in unserem Leben zahlreiche Ängste, etliche sind auch berechtigt: Höhenangst etwa, oder Angst vor der Dunkelheit, bis hin zu Ängsten, die aus unserer Lebensgeschichte kommen. 

Aktuell fürchten die meisten Deutschen allerdings, entweder krank zu werden oder den Tod eines geliebten Menschen, Arbeitsplatz beziehungsweise ihr Geschäft und damit die Existenzgrundlage zu verlieren, wieder andere, der Staat könnte die Freiheit abschaffen, und viele schließlich schlicht die Einsamkeit in der Isolation.

Wolf: Ja, ich bin Seelsorger und weiß nur zu gut, was an den Seelen der Menschen nagt. Letzten Endes ist es aber immer die Angst vor dem Tod, auf die alles zurückgeht. Oder wie mein Vater formulierte: „Seit einer das Sterben erfunden hat, ist man seines Lebens nicht mehr sicher.“ In Zeiten ohne Krise wissen die meisten Menschen allerdings geschickt zu verdrängen, daß das Leben trotz aller modernen Sicherheit doch ein Risiko ist und bleibt – daß wir es letztlich nie im Griff haben, uns Krankheit, Unglück, Tod jederzeit treffen können.

Sie meinen, die Corona-Krise ist gar kein Ausnahme- , sondern eigentlich der Normalzustand des Lebens?

Wolf: Ich meine, daß Krisen uns das Leben so zeigen, wie es wirklich ist. Weil wir aber davor zurückscheuen, versuchen wir in Zeiten ohne Krise, diese Wirklichkeit zu vergessen. Doch diese verdrängte Wirklichkeit bleibt uns in Form von Ängsten gegenwärtig.    

Aber wie nun mit ihnen Schluß machen, wie Ihr Buch rät? Zumal jetzt, wo uns die „verdrängte Wirklichkeit“ des Lebens in Form von Corona deutlich vor Augen steht?

Wolf: Dadurch, daß wir tun, wovor wir eigentlich zurückschrecken: uns der Angst stellen, statt vor ihr zu weichen.

Wie soll das gehen?

Wolf: Indem wir uns unseren Irrtum bewußt machen: Natürlich wird Corona vorübergehen. Aber irgendwann kommt wieder eine Pandemie oder etwas anderes. Corona zeigt uns, in Wahrheit gibt es kein vermeintlich sicheres, selbstbestimmtes Leben. Wir sind ausgeliefert, jederzeit kann es uns treffen. So müssen wir lernen, statt die Dinge zu verdrängen, sie in Demut hinzunehmen und sich mit ihnen zu konfrontieren – das ist der einzige Weg aus unserer Angst. 

Das klingt auf sonderbareweise gleichzeitig einleuchtend wie auch völlig rätselhaft ...

Wolf: Ich gebe zu, hat man keinen Glauben, ist es so, wie Sie sagen. Doch für uns Christen ist es viel leichter zu verstehen, weil wir wissen, daß unser Leben hier nicht unsere letzte Bestimmung ist. Sehen Sie, der heilige Benedikt schrieb: „Den Tod täglich vor Augen zu haben, ist ein gutes Werk.“ Das klingt für jene, die ihn verdrängen, absurd. Wir Christen aber öffnen uns in diesem Bewußtsein hin zu Gott. So wie es am Ende eines jeden Tages in unserem Abendgebet heißt: „In deine Hände, Herr, empfehle ich meinen Geist.“ Jene Worte, die auch Jesus an Karfreitag in größter Not und Einsamkeit am Kreuz gesprochen hat. 

Was aber sagen Sie jenen, die nicht glauben?

Wolf: Auch sie werden sich nicht von der Angst befreien können, wenn sie nicht lernen, mit ihr zu Rande zu kommen. Solange sie jung sind, mag es möglich sein, sie zu verdrängen, weil der Körper gesund ist, ernste Krankheiten kaum drohen. Doch spätestens im Alter holt es uns ein: wir werden schwächer, anfälliger, schutzloser. Da bleibt uns dann gar nichts anderes, als mit Mut zum Risiko zu leben. Sonst kann man, aus Angst was alles passieren könnte, nur noch zu Hause eingesperrt bleiben. Genau das aber machen wir jetzt! Alte und Risikogruppen sperren wir ein! Natürlich: da wir nie gelernt haben, damit zu leben, daß Leben Risiko bedeutet, erscheint uns das Einsperren – also das Risiko scheinbar auszusperren – nun als das einzig Richtige. Dabei ist es absurd.

Soll das heißen, Sie fordern, Alte und Vorerkrankte dem Risiko einer Ansteckung auszusetzen?

Wolf: Ich sage klar, das Virus ist sehr gefährlich! Weshalb ich auch nichts von den „Querdenkern“ halte. Statt wie sie Schutzregeln zu ignorieren, hat jeder verantwortungsbewußt, zum Schutz aller beizutragen – also Maske auf! Abstand halten! Etc. Doch nicht weniger gefährlich ist es, wenn wir uns aus Angst vor dem Virus die Freiheit nehmen lassen und das Leben einsperren.

Vor kurzem empfing der Bundespräsident Angehörige von Corona-Opfern, die ihm vom schrecklichen Sterben ihrer Lieben berichteten. Fürchten Sie nicht, diese Menschen würden wütend werden, wenn Sie ihnen angesichts ihres Verlusts mit „Mut zum Risiko“ kommen?

Wolf: Sicher, und ihre Wut wäre nur menschlich. Doch ändert sie nichts daran: Es ist brutal, wenn Menschen an Corona sterben. Aber noch brutaler ist es, wenn sie verdammt sind, das in Einsamkeit zu tun – ihre Angehörigen sie in der letzten Stunde nicht begleiten und Abschied nehmen dürfen. Das aber machen wir uns nach wie vor kaum bewußt, und zwar weil von Beginn an die Angst vor Corona bewußt geschürt wurde.

„Bewußt“ geschürt?

Wolf: Medien und Politik haben alles getan, um uns in Angst vor dem Virus zu versetzen. Ich erinnere mich noch, wie lange es gedauert hat, bis in den Medien, wenigstens vereinzelt auch mal abweichende Stimme zu vernehmen waren. Vielleicht waren sie selbst verängstigt, statt souverän Kritik zu üben.

Wer steckt Ihrer Ansicht nach dahinter? 

Wolf: Die Botschaften einiger Virologen, die überhaupt nicht hinterfragt und abgewogen wurden – obwohl gerade das die Aufgabe von Medien und Politik ist! Wobei ich zu kurz greife, nur sie zu nennen: Auch das Volk hat dazu beigetragen, indem es statt seine Freiheit zu verteidigen, nach mehr und immer mehr Einschränkungen ruft. 

Aber wer ist nach Ihrer Vorstellung der Drahtzieher – intendiert „bewußt geschürt“ nicht einen solchen?

Wolf: Nein, es bedeutet, daß den Leuten gezielt Angst gemacht wurde – doch nicht aus böser Absicht, sondern weil wir alle, Medien, Politik, Volk, Kinder unserer Zeit sind. Einer Zeit, die verdrängt, daß Risiko zum Leben und Freiheit zum Menschen gehört, denn so hat Gott uns geschaffen. Eine Zeit, die stattdessen nach Staat und Bevormundung ruft. Sehen Sie, als ich noch ein junger Mann war, war der „Ja-Sager“ das, was gesellschaftlich gewollt war – selbst in meiner Kirche war es so. „Hochwürden“ hier, „Eminenz“ da, Titel, Gewänder, Ämter und überall buckeln davor. Da war tatsächlich viel Muff unter den Talaren. Dann kamen die Achtundsechziger und rebellierten. Doch bald stellte man fest, daß sie zu den neuen „Ja-Sagern“ wurden, und ebenso Mitläufer und Unterwürfigkeit belohnten. 

Woher kam das?

Wolf: Geld, Macht – es gehört zur Anthropologie, daß der Mensch verführbar ist. Das bei sich selbst zu erkennen, bedarf aber ständiger Selbstreflexion. Sie aber taten damals selbstverständlich ja alles immer nur für das Gute und den Fortschritt. Dabei feierten sie noch Hò Chí Minh und Mao, als längst jeder wußte, für welche Verbrechen beide verantwortlich waren – dazu ihre völlige Intoleranz gegenüber Andersdenkenden. Doch Vorsicht, wir heute sind auch nicht anders. Auch wir tun angeblich alles aus reinem Edelmut, sind die Spitze der Moral, sitzen über jeden zu Gericht, besonders gerne über die Vergangenheit, von der wir natürlich genau wissen, wie sie zu sein gewesen hätte. Daß das heute so ist, wurzelt allerdings auch in der Ideologie des Laissez-faire der Achtundsechziger, Kinder nicht zu erziehen. Menschen aber, die nicht gelernt haben, selbständig und frei zu denken, sind der Willkür der Mächtigen und der Verhältnisse ausgesetzt. Sie hinterfragen nicht, sondern schlagen Alarm, schreien nach Maßnahmen der Regierung. Sie kennen es auch nicht anders, als daß Staat und Politik angeblich für alles verantwortlich sind, sich überall einmischen, um die Dinge angeblich besser, gerechter, sicherer zu machen. Das aber ist falsch, Frau Merkel etwa ist nicht für meine Gesundheit verantwortlich, das bin ich selbst!  

Allerdings entspricht der Lockdown nun mal der Empfehlung der Experten.

Wolf: Der Lockdown ist nicht die einzige Möglichkeit. Wo sind die Alternativen, der Wettbewerb, die neuen „Geschäftsideen“, wie wir sie in Tübingen, Rostock oder Altötting haben? Die Methoden, die man dort anwendet, sind gar nicht schlecht. Der Lockdown dagegen ist zudem unwissenschaftlich. 

Wieso das?  

Wolf: Wir wissen doch gar nicht, wie die Verbreitungswege des Virus tatsächlich sind. Und solange das nicht der Fall ist, beruht der Lockdown nicht auf gesichertem Wissen, sondern nur auf Annahmen. 

Dennoch ist er aber nun mal die von den Wissenschaftlern empfohlene Maßnahme. 

Wolf: Von einigen Virologen! Und allein daß er von Wissenschaftlern verordnet ist, macht ihn noch nicht wissenschaftlich. Leben ist mehr als Wissenschaft.

Heben wir ihn auf, schnellen, so das Argument, Infektionszahlen in die Höhe. 

Wolf: Ich glaube nicht, daß der Lockdown so wirkt, wie einige Wissenschaftler behaupten. Und das sage ich nicht nur als Seelsorger, der die Folgen der Verhältnisse, wie sie der Lockdown geschaffen hat, für die Psyche der Menschen kennt. Das sage ich auch als ehemaliger Professor für Wissenschaftstheorie – also gerade jenes Fachs, das sich mit wissenschaftlichem Vorgehen beschäftigt. Wollen wir denn wirklich eine ganze Gesellschaft in die Depression zwingen? Keiner spricht zum Beispiel davon, daß Angst unser Immunsystem schwächt! Und zu den zahlreichen negativen körperlichen Auswirkungen kommen die vielen psychischen. Auch der Lockdown fordert Menschenleben. 

Haben Sie dafür Zahlen?

Wolf: Nein, aber als Seelsorger kenne ich die Folgen von Einsamkeit und Depressionen bestens, weiß, daß der Lockdown viele in seelische Verzweiflung, Not, Krankheit und sogar Tod treibt. 

Sie sagen, statt des Lockdowns sollte sich jeder so verhalten, daß sich Sars-Cov-2 nicht verbreitet. Das ist doch illusorisch. 

Wolf: Nein, die meisten Leute machen mit. Tun wir doch bitte nicht so, als sei das ganze Volk verantwortungslos. 

Bei seiner Aufhebung würde sich ein Teil der Bürger sicher weiter verantwortungsbewußt verhalten – ein anderer Teil aber nicht. Und ein dritter Teil würde wohl trotz guter Vorsätze die Corona-Regeln einfach „schleifen“ lassen. Weil ein Lockdown natürlich den „Ernst der Lage“ symbolisiert – und ohne solche alarmierenden Signale neigt der Mensch zum Laissez-faire. 

Wolf: Es gibt immer Regelverstöße, das ist bei allem so: Freiheit bedeutet auch die Möglichkeit der Kriminalität, Mobilität Verkehrstote, die Möglichkeiten des Internets, die Abgründe des Darkwebs etc. Freiheit kostet, macht uns als Menschen aber aus. Akzeptieren wir das nicht, wird die Politik uns die Freiheit irgendwann vollständig genommen haben – weil diese schließlich viel zu viele Gefahren für uns birgt. Das endet dann in einer „Volksrepublik China“. Die Leute bedenken nicht, wohin die Dinge führen. Ebenso war es mit der Konzentration der Regierung auf den Lockdown, statt aufs Testen und Impfen. Es ist dieser Fokus, der bewirkt hat, daß wir heute beim Impfen so hinterherhinken – auch das ist also Folge der Lockdown-Politik. Und so müssen viele Ostern erneut alleine feiern, völlig unnötigerweise, weil wir schon viel weiter sein könnten. 

Immerhin passe die Osterbotschaft zu dieser traurigen Lage, sagen Sie. 

Wolf: Die Leute wollen immer, daß Ostern etwas zu sagen hat – nur danach richten, das möchten sie sich dann nicht. Aber ja, die Osterbotschaft sind ja die Worte Jesu nach der Auferstehung: „Fürchtet euch nicht, ich bin bei euch!“ Doch er trug noch die Male des Leidens an sich, also: Ein „billiges“, bequemes Ostern, wie wir das gerne hätten, gibt es nicht: Hoffnung und Leid, Leid und Hoffnung gehören zusammen.                                                          






Prof. Dr. Notker Wolf OSB, kaum eine Talkshow, in der er noch nicht zu Gast war, ob Anne Will, Maischberger, Markus Lanz. Notker Wolf, geboren 1940 in Bad Grönenbach/Allgäu, mischt sich gerne ein und hat über ein Dutzend Bücher verfaßt. Er war Professor für Naturphilosophie und Wissenschaftstheorie an der Päpstlichen Hochschule Sant’Anselmo in Rom, Missionar in Afrika und Asien und bis 2016 Abtprimas, also Vorsitzender, des weltweiten Benediktinerordens. Zuletzt veröffentlichte er  „Schluß mit der Angst. Deutschland schafft sich nicht ab“, „Gute Vorsätze. Beim nächsten Mal wird alles anders“ und „Das Unmögliche denken, das Mögliche wagen. Visionen für eine bessere Zukunft“. 

Foto: Der Abt mit seiner feuerroten Santana-Gitarre (Kloster St. Ottilien): „Die Gesellschaft hat verdrängt, daß Leben Risiko bedeutet. Deshalb erscheint ihr der Lockdown auch als logisch – dabei ist er absurd. Denn nach dieser Pandemie kommt etwas anderes. Es gibt nur einen Weg aus der Angst“ 

weitere Interview-Partner der JF