© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 14/21 / 02. April 2021

Ich hatt’ keinen Kameraden
Bundeswehr: Seit zehn Jahren ist in Deutschland die Wehrpflicht ausgesetzt / Trotz neuer Freiwilligen-Programme fehlen der Truppe Soldaten
Peter Möller

Das Ende war unspektakulär: Vor zehn Jahren beschloß der Deutsche Bundestag mit den Stimmen der schwarz-gelben Koalition aus Union und FDP sowie mit Unterstützung der Abgeordneten von Bündnis 90/Die Grünen das Wehrrechtsänderungsgesetz, das am 1. Juli 2011 in Kraft trat. Hinter diesem unscheinbaren Namen verbarg sich das Aus für eine Institution: Rund 55 Jahre nach ihrer Wiedereinführung wurde die allgemeine Wehrpflicht in Deutschland ausgesetzt. Gleichzeitig wurde mit dem Gesetz ein freiwilliger Wehrdienst von sechs bis 23 Monaten für Männer und Frauen eingeführt. Bis zu 15.000 Freiwillige, so die damaligen Pläne, sollten in der Bundeswehr künftig neben den Zeit- und Berufssoldaten dienen, und so an die Stelle der quartalsweise einberufenen Wehrpflichtigen treten.

Seit dieser historischen Entscheidung hat sich die Welt, hat sich aber auch die Bundeswehr sicherheitspolitisch grundlegend verändert. Die Aussetzung der Wehrpflicht war Teil einer abermaligen Bundeswehrreform, mit der die Bundeswehr von damals noch rund 255.000 Soldaten auf bis zu 185.000 verkleinert werden sollte – nicht zuletzt, um zu sparen. Es gab aber auch praktische Gründe für das Ende der Wehrpflicht: Durch die Ausbildung der Grundwehrdienstleistenden wurden zwischen 20.000 und 30.000 Berufs- und Zeitsoldaten gebunden, die damit für Auslandseinsätze, auf die die Bundeswehr damals ausgerichtet war, nicht zur Verfügung standen.

Weg zurück nur unter größten Schwierigkeiten

Ein weiterer Punkt hat zumindest hinter vorgehaltener Hand auch eine wichtige Rolle gespielt: die Frage der Wehrgerechtigkeit. Durch die zunehmende Verkleinerung der Bundeswehr nach Ende des Kalten Krieges wurden immer weniger Rekruten benötigt. Auch die mehrfache Verkürzung des Wehrdienstes von 15 Monaten im Jahr 1990 auf sechs Monate im Jahr 2011 sowie die wachsende Zahl von Ausmusterungen änderten nichts daran, daß immer mehr Wehrpflichtige um den Dienst an der Waffe herumkamen, weil sie einfach nicht mehr gebraucht wurden. Dadurch sank der Anteil der jungen Männer eines Jahrganges, die zum Wehrdienst eingezogen wurden kontinuierlich. Aus diesem Grund war bis zur Aussetzung der Wehrpflicht 2011 nicht ausgeschlossen, daß die Frage der Wehrgerechtigkeit eines Tages vor dem Bundesverfassungsgericht landen könnte.

Doch auch wenn aus Sicht der damals verantwortlichen Verteidigungspolitiker gewichtige Argumente gegen die Wehrpflicht sprachen, ließen sie sich eine Hintertür offen. Denn das Ende der Dienstpflicht gilt ausschließlich in Friedenszeiten, im Spannungs- oder Verteidigungsfall kann sie wieder aktiviert werden. Deshalb blieb Artikel 12a des Grundgesetztes, nach dem jeder männliche deutsche Staatsbürger „vom vollendeten achtzehnten Lebensjahr an zum Dienst in den Streitkräften, im Bundesgrenzschutz oder in einem Zivilschutzverband verpflichtet werden“ kann, durch die Gesetzesänderung unberührt.

Daß die Aussetzung der Wehrpflicht dennoch nicht auf ungeteilte Begeisterung stieß, machte der damalige Verteidigungsminister Thomas de Maizière (CDU) am Tag der Abstimmung deutlich: „Ich finde das keinen Freudenakt heute, daß wir hier die Wehrpflicht aussetzen“, sagte er im Bundestag bei der Debatte des Gesetzes, das sein Amtsvorgänger Karl-Theodor zu Guttenberg (CSU) angestoßen hatte. Die Wehrpflicht sei allerdings sicherheitspolitisch nicht mehr zu begründen. Deutschland benötige leistungsfähige und finanzierbare Streitkräfte.

Auch wenn vor allem von Politikern der Union immer wieder betont wurde und wird, daß die Wehrpflicht nur ausgesetzt worden ist und bei Bedarf wieder in Kraft gesetzt werden könnte: Alle politisch Verantwortlichen wissen, daß der Weg zurück nur unter größten Schwierigkeiten möglich wäre. Das fängt schon bei der Organisation an: Nach dem Aus für die Wehrpflicht ist die dafür notwendige Infrastruktur mit deutscher Gründlichkeit abgewickelt worden. So wurden die Kreiswehrersatzämter, die für die Einberufung und Musterung der Rekruten zuständig waren, Ende 2012 aufgelöst. Ihre Aufgabe haben sogenannte Karrierecenter übernommen, die aber vor allem darauf ausgerichtet sind, für den Dienst in der Bundeswehr zu werben und Freiwillige zu rekrutieren. Auf die Erfassung und Verwaltung Hunderttausender Wehrpflichtiger sind sie jedoch nicht ausgelegt.

Zudem sind seit 2011 zahlreiche weitere Kasernen geschlossen worden, so daß bei einer kurzfristigen Wiedereinsetzung der Wehrpflicht die Unterbringung der Rekruten die Bundeswehr vor erhebliche organisatorische Probleme stellen würde. Auch die Ausbildung der neuen Soldaten sowie ihre Ausstattung mit Ausrüstung und Material würde die Truppe ohne beträchtlichen finanziellen Aufwand und entsprechenden zeitlichen Vorlauf nicht bewältigen können.

Doch davon abgesehen: Derzeit sind Szenarien, die zu einer Wiedereinsetzung der Wehrpflicht führen könnten, politisch nur schwer vorstellbar. Mit der Entscheidung, die Bundeswehr in eine Berufsarmee umzuwandeln, wurde der Weg hin zu einem Massenheer, wie es noch im Kalten Krieg in den Planungen der Militärs eine entscheidende Rolle spielte, zumindest mittelfristig verstellt. Denn eine weitere gravierende Folge der Aussetzung der Wehrpflicht ist der zunehmende Mangel an Reservisten. 

Bis 2011 konnte die Bundeswehr darauf bauen, im Bedarfsfall ehemalige Wehrdienstleistende zu Wehrübungen einzuziehen, um deren Ausbildung auf den neusten Stand zu bringen, um so eine ausgebildete Reserve für den Spannungsfall vorzuhalten, mit der die aktiven Truppenteile ergänzt werden konnten. Seit dem Ende der Wehrpflicht ist dieses Reservoir deutlich kleiner geworden.

Größer geworden sind stattdessen die Personalsorgen der Truppe. Trotz aller Bemühungen der Rekrutierung leidet die Bundeswehr seit Jahren unter Nachwuchsmangel und kann ihre Planstellen meist nicht komplett besetzen. Derzeit plant die Bundeswehr mit 203.000 Soldaten, doch im Februar lag die Zahl der tatsächlich dienenden Soldaten mit knapp über 184.000 deutlich unter der Zielvorgabe des Verteidigungsministeriums. Bei den Zeitsoldaten zeigt die Kurve derzeit sogar nach unten.

Neues Angebot für Heimatschutz

Mit zahlreichen Initiativen hat das Verteidigungsministerium seit der Aussetzung der Wehrpflicht versucht, den freiwilligen Dienst in der Armee attraktiver zu machen. Der neueste Versuch mit dem Schwerpunkt Heimatschutz trägt den Titel „Dein Jahr für Deutschland“ und startet in diesem Monat. Nach der siebenmonatigen Grund- und Fachausbildung werden die Soldaten heimatnah in Regionalen Sicherungs- und Unterstützungskompanien (RSU-Kompanien) eingesetzt. Dort übernehmen sie nach Angaben der Bundeswehr im Schwerpunkt Wach- und Sicherungsaufgaben sowie Aufgaben in der ABC-Abwehr und im Feldjägerdienst. Diese zweite Phase des Dienstes kann von fünf Monaten bis zu sechs Jahren dauern. Die heimatnahe Stationierung und die Tatsache, daß Auslandeinsätze für die „Heimatschützer“ nicht vorgesehen sind, sollen dieses Angebot für all jene attraktiv machen, die fürchten, der Wehrdienst könnte sie aus ihrem persönlichen Umfeld herausreißen. 

Nach Angaben der Bundeswehr mit Erfolg: „Der neue Dienst ist ein Angebot, das offenbar eine Lücke schließt. Denn das Interesse junger Menschen am Freiwilliger Wehrdienst Heimatschutz ist groß: Für den ersten Durchgang sollten 250 Soldatinnen und Soldaten eingestellt werden. Doch jetzt beginnen 326 zukünftige Heimatschützerinnen und Heimatschützer zum 1. April 2021 ihren Dienst – trotz erschwerter Bewerbungsverfahren unter Pandemie-Bedingungen“, vermeldet die Truppe. Und auch für den zweiten Starttermin im Juli 2021 seien schon fast alle 280 Stellen besetzt. „Das Angebot trifft offenbar vor allem bei jungen Frauen und Männern einen Nerv, die sich in Krisen- und Katastrophenfällen im Sinne des Heimatschutzes engagieren möchten und sich dafür in der Verbindung von freiwilligem Wehrdienst und Reservistendienst professionell ausbilden und vorbereiten lassen“, sagt Generalleutnant Klaus von Heimendahl, der im Verteidigungsministerium für das Personal zuständig ist.

Doch selbst der optimistisch gestimmte Generalleutnant erwartet vermutlich nicht, daß das neue Programm für einen heimatnahen Wehrdienst die anhaltenden Nachwuchsprobleme der Bundeswehr beheben wird, die ganz wesentlich auf die Aussetzung der Wehrpflicht vor zehn Jahren zurückgehen.





Krise im Kommando Spezialkräfte

Der ranghöchste Soldat der Bundeswehr verbreitet Optimismus: Das Kommando Spezialkräfte (KSK) sei „auf einem guten Weg“, heißt es im vergangene Woche veröffentlichten 2. Zwischenbericht der Arbeitsgruppe, die die angeblichen oder tatsächlichen Mißstände im Eliteverband untersuchen und beheben soll (JF 29/20). Im gesamten KSK werde spürbar, so Generalinspekteur Eberhard Zorn, „daß Achtsamkeit und Sensibilität in Bezug auf extremistische Einstellungen und Tendenzen gestiegen sind“. Diesbezüglich hätten sich „Beratung und Unterstützung der truppendienstlichen  Vorgesetzten“ durch den Militärischen Abschirmdienst „förderlich“ ausgewirkt. Das sehen vor Ort in Calw offenbar nicht alle so. Im Gegenteil, ist von zahlreichen Beschwerden über die Methoden des MAD die Rede. In mindestens einem Fall geht ein betroffener Offizier gegen die Nachrichtendienstler juristisch vor. Deren Suche nach einem vermeintlichen rechtsextremen Netzwerk in der Truppe schlage sich negativ auf die Stimmung und damit die Einsatzbereitschaft nieder, heißt es übereinstimmend. Passend dazu geht aus der Antwort des Bundesverteidigungsministeriums auf eine Anfrage des Bundestagsabgeordneten Jan Nolte (AfD) hervor, daß die Zahl der Versetzungsgesuche im KSK sprunghaft angestiegen ist. Beantragten in den Jahren 2015 bis 2017 jeweils unter zehn Kommandosoldaten ihre Versetzung, stieg die Zahl im Jahr 2018 auf 14. Die Hälfte davon waren Ausbilder. In diesem Jahr hatte der derzeitige Kommandeur, Brigadegeneral Markus Kreitmayr, die Führung des KSK übernommen. 2019 beantragen 17 Kommandosoldaten (sechs Ausbilder) ihre Versetzung, 2020 neun (vier Ausbilder). „Im KSK muß derzeit jeder Konservative Angst haben, als Verfassungsfeind hingestellt zu werden“, kritisiert Verteidigungspolitiker Nolte gegenüber der JUNGEN FREIHEIT die Zustände. „Die Soldaten leben in der ständigen Angst, wegen Maßstäben, die sie nicht nachvollziehen können, die Uniform ausziehen zu müssen.“ (vo)