© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 14/21 / 02. April 2021

Weine nicht, wenn die Werte fall’n
Dam-dam, dam-dam: In der Union herrscht angesichts sinkender Umfrageergebnisse Krisenstimmung / „Wir haben kein Abo auf Kanzlerschaft“
Jörg Kürschner

Fern von parteipolitischer Polemik gab das SPD-Urgestein Franz Müntefering der CDU zum 70. Geburtstag 2015 zu bedenken: „Ich bin sicher, es wird der Punkt auch kommen, wo die große Frage ist, wo ist eigentlich die Substanz in dieser CDU, abgesehen davon, daß sie Machtinstinkt hat, und da ist sie vielleicht immer resoluter gewesen als wir“. Sechs Jahre später ist diese Frage hochaktuell, bei Mitgliedern und Wählern, die sich laut Meinungsumfragen in Scharen von den Unionsparteien abwenden.

„Gespaltene, entkernte, verunsicherte Partei“

Der Absturz ist dramatisch. Seit Anfang Februar sind CDU/CSU von knapp 36,5 Prozent um fast 11 Punkte auf 26 Prozent abgestürzt, wie die neueste Umfrage des Meinungsforschungsinstituts Insa ergeben hat. Eine Ampelkoalition aus Grünen, SPD und FDP wäre möglich, ein rot-rot-grünes Bündnis in Sichtweite. Insa-Chef Hermann Binkert sagte gegenüber der JUNGEN FREIHEIT: „Mehrheiten ohne die Union werden wahrscheinlicher.“

Impfchaos, Testchaos, Rückwärts-Rolle bei der „Osterruhe“ und die Maskenaffäre sind die äußeren Ursachen für den Niedergang. Bereits die katastrophalen Ergebnisse der Landtagswahlen in Baden-Württemberg und Rheinland-Pfalz hatten die Unionsführung in Alarmstimmung versetzt. Sogar Bundestagsabgeordnete gaben ihre gewohnte Zurückhaltung auf. Albert Weiler, Parlamentarier aus Thüringen, griff Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) wegen der „Osterruhe“ frontal an. „Ihr Beschluß ist eine Kapitulationserklärung. Planlos, ratlos, mutlos.“ CSU-Chef Markus Söder mahnte „deutliche Verbesserungen“ beim Impfmanagement an und forderte die CDU angesichts einer drohenden Wechselstimmung zu entschlossenerem Handeln auf. „Wir haben kein Abo auf die Kanzlerschaft.“ Gemeint war CDU-Chef Armin Laschet, der eher abwartend reagiert hatte. 

Angesichts seiner schwachen persönlichen Umfragewerte wachsen in beiden Unionsparteien die Zweifel, ob er die CDU aus der Krise führen kann. „Können wir noch Krise?“, fragt Bayerns Ex-Ministerpräsident Edmund Stoiber (CSU), gescheiterter Kanzlerkandidat von 2002. Schon sprechen sich erste CDU-Parlamentarier offen für Söder als gemeinsamen Kanzlerkandidaten aus. „Bei mir an der Parteibasis kenne ich praktisch niemanden, der für Armin Laschet ist“, meinte der rheinland-pfälzische Bundestagsabgeordnete Johannes Steiniger. Dessen sächsische Kollegin Veronika Bellmann forderte Laschet gar zum Verzicht auf die Kandidatur auf und plädierte für den im Rennen um den Parteivorsitz unterlegenen Friedrich Merz. „Manches Material will einfach nicht strahlen, egal wie stark man es auch beleuchten mag.“ 

CDU-Bundesvize Thomas Strobl hingegen plädierte für Laschet. Die Führungsfrage müsse rasch beantwortet werden. Die beiden Gegenspieler hatten vereinbart, diese zwischen Ostern und Pfingsten zu klären. Laschet sprach kürzlich davon, daß die Entscheidung „sehr schnell nach Ostern“ fallen könne. Söder beharrte jedoch auf der bisher genannten Zeitspanne. In der Bundestagsfraktion wird die Atmosphäre als „extrem angespannt und desaströs“ beschrieben. Bei einigen Abgeordneten sei bereits Abschiedsstimmung zu spüren. Die Personalprobleme werden überlagert von inhaltlichen Defiziten wenige Monate vor dem Ende der Ära Merkel. Es ist die erste Bundestagswahl, bei der der Amtsinhaber nicht zur Wiederwahl steht. Das Wort vom „Kanzlerwahlverein“ macht wieder die Runde; seit 1949 hat die CDU 52, die SPD nur 20 Jahre das Kanzleramt besetzt. Der Historiker Andreas Rödder sieht die CDU „heute als gespaltene, programmatisch entkernte und jetzt auch noch verunsicherte Partei“. 

Ursächlich seien Merkels abrupte Kurswechsel etwa beim Atomausstieg oder in der Flüchtlingskrise. Am vergangenen Dienstag wollte Laschet mit einer Grundsatzrede das Zeichen für einen Aufbruch setzen. 

Kein Posten für Friedrich Merz

Das Wahlprogramm mit den Schwerpunkten Digitalisierung und Klimaschutz soll unter dem Motto „Dein Deutschland. Deine Ideen“ stehen. Festgelegt hat sich der nordrhein-westfälische Regierungschef aber offenbar personell. Berichten zufolge habe Laschet auf Fragen von CDU-Mittelständlern, ob er Merz einen Kabinettsposten anbieten werde, geantwortet, es gebe bereits genügend Katholiken und Männer in der CDU, die für ein Ministeramt in Frage kämen. Außerdem strebe er im Falle des Wahlsiegs an, jeden zweiten Ministerposten mit einer Frau zu besetzen. 

Das Undenkbare in der Union hatte Parteisenior Wolfgang Schäuble angesprochen, Parlamentarier seit 1972. „Übrigens ist 1969, als Kiesinger für Brandt gehen mußte, die Welt nicht untergegangen und 1998, als Kohl Schröder unterlag, auch nicht.“ Findet sich da schon einer mit der Oppositionsrolle ab? Müntefering hatte 2004, ein Jahr vor Schröders Auszug aus dem Kanzleramt, seine Genossen gewarnt. „Opposition ist Mist“.