© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 14/21 / 02. April 2021

Böller, Bier, Bengalos
Robuste Räumung: Ein halbes Jahr vor der Wahl geht Berlins sozialdemokratischer Innensenator gegen linksextreme Hausbesetzer vor
Hermann Rössler

Böller krachen, Bengalos zischen, Punkrock dröhnt aus Lautsprecherboxen: Vergangenen Donnerstag demonstrierten in Berlin über den Tag verteilt an die 1.000 Linksextremisten gegen die Räumung ihres Szenetreffs „Meuterei“ im Stadtteil Kreuzberg. Der Mietvertrag für die Kneipe, den ein „Meuterei“-Kollektiv 2009 abgeschlossen hatte, war bereits 2019 ausgelaufen. Die Übergabe der Räumlichkeiten verlief mit etwa 1.100 Polizisten im Einsatz denn auch relativ reibungsfrei. 

Ihre Ankündigung, die „Räumung zum Desaster machen“ zu wollen, machten die Hauptstadt-Antifaschisten dennoch wahr. Die Bilanz des Tages: 60 Festnahmen, unter anderem wegen Beleidigung, Sachbeschädigung, versuchter schwerer Körperverletzung, Widerstand gegen Vollstreckungsbeamte, Hausfriedensbruch und viermal wegen eines Verstoßes gegen das Sprengstoffgesetz. 15 Polizisten wurden verletzt, einer mußte ins Krankenhaus eingeliefert werden. In der Nacht auf Donnerstag brannten zudem in verschiedenen Bezirken 15 Autos, über einen möglichen Zusammenhang zu den Protesten ermittelt derzeit die Polizei. 

Das dritte Szeneobjekt innerhalb eines Jahres

Nach der Kneipe „Syndikat“ und dem „queerfeministischen Hausprojekt“ in der Liebigstraße 34 hat die Szene mit der „Meuterei“ innerhalb eines Jahres den dritten Standort im rot-rot-grün regierten Berlin aufgeben müssen. Dazu kommen mehrere Schlappen vor Gericht. 

Die Zeiten, in denen Linksradikale ungehindert „Freiräume“ für sich reklamieren konnten, scheinen an ein Ende zu kommen. Zumindest hat es sich Innensenator Andreas Geisel (SPD) zur Aufgabe gemacht, geltendes Recht auch für Anarchisten durchzusetzen. Zuletzt bewies Geisel seinen Willen dazu im Rechtsstreit über das von Linksextremen teilweise besetzte Haus in der Rigaer Straße 94. In einem Entscheid vom Februar hatte das Verwaltungsgericht Berlin rechtliche Vertreter des Hauseigentümers als solche anerkannt und diesen zugestanden, alle Räume des Gebäudes betreten zu dürfen. Für eine Brandschutzbegehung sagte das Gericht dem Eigentümer außerdem Polizeischutz zu. Daß eine Brandschutzprüfung bisher überhaupt unterblieb, liegt auch an dem Baustadtrat der Grünen im Bezirk Friedrichshain-Kreuzberg, Florian Schmidt. 

Bereits in den Jahren 2017, 2018 und 2019 hatte dieser eine Sichtung des Hauses für nicht notwendig erklärt. Bei Polizeieinsätzen in der „Rigaer 94“ im Herbst 2019 und im Sommer 2020 protokollierten der Hausverwalter und der Anwalt des Hauseigentümers jedoch unter anderem Brandschutzgefahren wie unsachgemäß verlegte Elektroanschlüsse, aus der Decke hängende Elektrokabel, eingebaute Metalltüren, durchbrochene Brandschutzwände und brennbare Materialien im Dachgeschoß. Eine Anordnung des eigenen Bezirksamts Friedrichshain-Kreuzberg von 2020, die Mängel untersuchen zu lassen, soll Schmidt unter Verweis auf die rechtlich nicht geklärte Vertretung des Hauseigentümers abgewiesen haben. Diese Unsicherheit ist mit dem Urteil vom Februar allerdings ausgeräumt. 

Doch auch den auf ursprünglich Mitte März gesetzten Termin zur Begehung vereitelte Schmidt. In Absprache mit den Hausbesetzern, denen er laut dem RBB per Brief versicherte, lediglich Gemeinschaftsflächen sichten zu wollen, und mit dem erklärten Ziel, „die Begehung ohne großangelegten Polizeieinsatz umzusetzen“, begutachete der Bezirksbaustadtrat zusammen mit einem Anwalt der Linksautonomen und einer Mitarbeiterin der Bauaufsicht nur Teile des Gebäudes. 

Geisel wertete die Prüfung jedoch als unzureichend und warf dem Grünen vor, sich „vor den Karren von gewaltbereiten Linksextremisten spannen“ zu lassen. Dem Urteil des Innensenators schloß sich auch Bundesfamilienministerin Franziska Giffey (SPD) an, die Schmidt „Rechtsbeugung“ vorwarf. Daß sich ein genaueres Hinsehen lohnt, bestätigt auch die Kriminalstatistik für Berlin, die Geisel vergangenen Freitag vorstellte. 

Darin ist ein Anstieg linksextremer Straftaten um 50 Prozent erfaßt. Waren es 2019 noch 1.419 Fälle, wurden im vergangenen Jahr 2.128 registriert. Noch brisanter: Im Jahr 2020 begingen Linksextreme rund 70 Prozent mehr Gewalttaten als 2019. Vergangenes Jahr zählte die Polizei 439 körperliche Übergriffe; das sind 176 Fälle mehr als 2019. 61 Prozent der Gewaltdelikte passierten zudem im Kontext von Demonstrationen. 

„Alternative Kultur- und Wohnprojekte erhalten“

Ganz ohne politisches Kalkül wird der von der Berliner SPD präsentierte Wille zu Recht und Ordnung allerdings nicht auskommen. Giffey ist Spitzenkandidatin der Partei für die kommenden Wahlen zum 19. Berliner Abgeordnetenhaus voraussichtlich am 26. September. 

Laut einer repräsentativen Umfrage des Instituts Infratest dimap käme die SPD derzeit auf 18 Prozent der Zweitstimmen, was verglichen mit den Werten aus dem September 2020 ein Plus von drei Prozentpunkten bedeutet. Somit wäre die SPD die einzige Partei, die in der Wählergunst zulegen konnte. 

Den ersten Platz belegen in der Umfrage die Grünen, die um drei Prozentpunkte auf 23 Prozent sanken, gefolgt von der CDU und der Linkspartei, die mit 22 und 15 Prozent weder Gewinne noch Verluste einfahren konnten. Die AfD verliert einen Prozentpunkt und kommt auf neun Prozent. Die FDP steht gleichbleibend bei sechs Prozent. Im Streit um die „Rigaer 94“ errang der Hauseigentümer indes einen weiteren Sieg vor dem Berliner Verwaltungsgericht. Das entschied am 9. März, daß das Bezirksamt die Hausbesetzer auffordern muß, eine Begehung zu dulden. Ein Termin dafür steht noch nicht fest. 

Für den Umgang mit Linksextremen gibt es derweil keine einheitliche Linie im Senat. Nach der Räumung der „Meuterei“ bemühten sich die Grünen, zu beschwichtigen. Die Bezirksverordnetenversammlung (BVV) habe keine Handhabe, „um den Fortbestand zu schützen“, wie es in einer Pressemitteilung heißt. „Mit großem Bedauern“ nehme man wahr, „daß durch die Gentrifizierung ein alternativer Lebensort nach dem anderen geräumt wird“. 

Von der Linkspartei äußerte sich unter anderem Niema Movassat, der bemängelte, es sei Deutschland „wichtiger, die Interessen eines Investors durchzusetzen, als die Demokratie zu schützen“. Vergangenen Mittwoch verabschiedete die BVV Friedrichshain-Kreuzberg die Resolution „Alternative Wohn- und Kulturprojekte in Friedrichshain-Kreuzberg erhalten“. 

Damit zeige der Bezirk sich „solidarisch mit dem Kneipenkollektiv und anderen linksautonomen Projekten“. Ein Unterstützer-Account der Antifaschisten schreibt dagegen auf Twitter: „Kein Frieden mit diesem Staat, diesem Senat und seinen Schergen.“